Ansichten eines Informatikers

Beide Seiten anzuhören …

Hadmut
16.3.2022 21:11

ist eine gute Idee. Sie hat allerdings einen Haken. [Update]

Ein Leser schreibt:

Sehr geehrter Herr Danisch,

ich möchte Bezug nehmen auf Ihren Beitrag ‘Donbass’ vom 16.03.2022 in Ihrem Blog: https://www.danisch.de/blog/2022/03/16/donbass/

Hier wird die Grundsatzfrage gestellt, ob man sich in einer derartigen Kriegssituation überhaupt einigermaßen ausgewogen informieren kann.

Ich denke, dass kann man in einem gewissen Grade schon, man sollte aber für eine Beurteilung IMMER die Sicht beider Konfliktparteien kennen. Es ist wie bei einer Scheidung: Die ‘eine’ Meinung genügt eben nicht, man sollte auch immer die andere Sichtweise kennen.

Um die jeweils andere Sichtweise kennzulernen und zu verstehen, MUSS man sich die Zeit nehmen und gezielt danach suchen. Wenn man das verabsäumt hat, ist man meiner Meinung nach nicht qualifiziert genug, um vor einem Millionenpublikum zu publizieren.

Leider machen das unsere Massenmedien seit Jahren.

Es ist manchmal nicht einfach, Quellen zu finden, die die Sichtweise der Gegenseite darstellen. Aber das Argument ‘Ich habe doch nicht so viel Zeit, mich damit so tiefgründig zu beschäftigen’ ist nach meinem Dafürhalten keine belastbare Basis, sich trotzdem vor einem großen Publikum zu dieser Sache zu äußern.

Wohlgemerkt, ich möchte den Krieg in der Ukraine seitens Russland nicht verteidigen, es geht mir in dieser Mail lediglich darum, die Gesamtsituation ausgewogen zu bewerten.

Genau das ist ja der Grund, warum es mich so stört, dass man Russia Today blockiert.

Ich bin der Meinung, dass man eben beiden Seiten zuhören sollte. Und zwar auch dann, wenn bzw. falls sie lügen. Das ist eng verwandt damit, dass man auch in einem Strafprozess dem Angeklagten gestattet zu lügen, er dafür nicht bestraft werden kann, aber wenn man ihn dabei ertappt, es seine Position in der Hauptsache schwächt.

Ich halte es keineswegs für einen hinreichenden Grund, Russia Today (RT) zu sperren, weil man ihnen unterstellt oder vielleicht auch nachweist, dass sie lügen. Ich bin der Meinung, dass wenn sie lügen wollen, man sie auch lügen lassen sollte. Erstens, weil das mit der Wahrheit und wer sie bestimmen will, ohnehin immer eine schwierige und manchmal sich ändernde Sache ist, und man eine Fehlentscheidung bei der Sperre nicht mehr rückgängig machen kann. Und zweitens, weil man den Lügner beim Lügen auch ertappen können soll.

Sagt er aber die Wahrheit, muss er erst recht angehört werden. Eigentlich ist es sogar andersherum. Eigentlich muss man erst zuhören um dann überhaupt überlegen zu können, ob man es für wahr oder gelogen hält. Man kann jemandem nicht die Lüge unterstellen, die zu sagen man ihn abgehalten hat, weil es dann ja nicht zur Lüge kam. Das hat was von Temporalmechanik und selbstblockierenden Zukunftsprognosen in sich.

Die Sache mit dem Gehör hat aber auch einen Haken.

Wenn man nämlich Gehör bekommt, muss man es auch wahrnehmen. Wenn man es erhält, dann aber nichts sagt, dann muss man sich das auch zurechnen lassen.

Ich habe heute unterwegs auf dem Handy etwas gelesen, weiß leider nicht mehr genau, wo, und das jetzt nochmal gegoogelt. Es gibt viele Quellen, deshalb etwas diffus, nehmen wir mal Tagesschau.

Russland muss seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort einstellen. Eine entsprechende Anordnung verkündete das höchste Gericht der Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Die Gewalt müsse sofort enden, sagte die Präsidentin des Gerichtes, Joan Donoghue. Der militärische Einsatz Russlands führe zu unzähligen Toten und Verletzten. Moskau müsse zudem sicherstellen, dass von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen sich ebenfalls an die Anordnung halten.

Die Richter gaben damit einer Dringlichkeitsklage der Ukraine statt. Die Regierung in Kiew wirft Russland den Missbrauch der Völkermord-Konvention von 1948 vor. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte erklärt, dass Russen in der Ostukraine vor einem Völkermord geschützt werden müssten – hatte aber keine Beweise für einen solchen vorgelegt.

Ob man dem Pressegeblubber glauben kann, ist eine schwierige Frage, man müsste sich die Entscheidung erst mal im Original ansehen, wird ja vermutlich schriftlich irgendwo vorliegen oder vorgelegt werden.

Aber nehmen wir mal an, dass das so ist, wie die da behaupten: Die Russen hätten vor dem Gerichtshof als Grund für den Krieg angegeben, die Russen in der Ostukraine vor einem Völkermord schützen zu müssen (war’s nicht eben noch die NATO als Grund?), aber keine Beweise vorgelegt.

Muss man dann eigentlich selbst noch nach Gründen suchen, nach Rechtfertigungsmomenten?

Oder reicht es, dass man ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, und sie schon selbst nichts beweisen konnten?

Muss man sich zwingend zum Anwalt der Russen machen und Gründe finden, die sie selbst nicht belegen (können, wollen, was auch immer)?

Oder ist dem Untersuchungsgrundsatz damit hinreichend Genüge getan, dass man ihnen Gehör einräumte und sie dann schon selbst keine Belege für ihren geäußerten Grund vorgelegt haben?

Anders gefragt:

Dient das eingeräumte Gehör, der Grundsatz, beide Seiten anzuhören, nur jeweils der Verbesserung der Lage desjenigen, oder kann das Ausbleiben einer triftigen Begründung als Äußerung auch zum Nachteil der Partei gereichen?

Muss man noch selbst nach Belegen für Kriegsgründe suchen, oder hat sich das erledigt, wenn die schon selbst keine vorlegen können? Immerhin haben die ja Geheimdienste, Vorbereitungszeit und so weiter, könnten das also vor dem Krieg eruiert und dokumentiert haben.

Der Punkt ist: Der, der den Krieg anfängt, trägt die Beweislast. Und die Ukraine bestreitet, da die Russen abzuschlachten. Das kann zwar auch gelogen sein, aber beweisen muss halt erst mal der, der die Beweislast trägt. Und das ist der Angreifer.

Das ist halt immer so eine Sache mit dem (rechtlichen, publizistischen) Gehör: Das kann auch nach hinten los gehen. Keine Aussage ist auch eine Aussage.

Jetzt müsste man aber erst mal diese Entscheidung finden und darin die Quelle der Aussage, dass die Russen keine Belege gebracht haben.

Will sagen: Nicht jede negative Meinung über jemandem beruht darauf, ihn nicht angehört zu haben. Sie kann auch Folge des Ergebnisses der Anhörung sein.

Update: Ein Leser hat den Link zum Urteil/Beschluss geschickt. Ich habe nur mal kurz reingeklickt, es noch nicht gelesen, und bin mir nicht ganz sicher, was das überhaupt sein soll. Ich würde es, nach den Erläuterungen zu prima facie (erster Anschein) und Abschnitt V als so etwas wie eine einstweilige Anordnung ansehen.