Ansichten eines Informatikers

Seit 200 Tagen in Haft

Hadmut
2.9.2017 10:21

Aufregung um die Türkei.

Es geht gerade durch die Presse, dass Deniz Yücel in der Türkei seit 200 Tagen ohne Anklage in Haft sitzt, was der Beweis der Nicht-Rechtsstaatlichkeit der Türkei sei. Viele schreiben darüber.

Ich will das jetzt mal nicht bewerten und offen lassen, ob das falsch oder richtig ist.

Ich weiß aber von einem Fall aus Deutschland, der allerdings über 20 Jahre zurückliegt, in dem jemand deutlich über ein Jahr in Untersuchungshaft saß, bevor überhaupt jemand Anklage erhob. Völlig rechtswidrig, das war nämlich auch rechtlich nicht notwendig, aber weil die Vorwürfe sowieso äußerst wackelig waren und die ganze Story nicht rund war, hat man halt einfach gewartet, ob sich nicht doch noch was tut, und dann war die Staatsanwaltschaft in Urlaub, und dann das Gericht, und Urlaub sah man da als Haftverlängerungsgrund an. Obwohl die möglichen Haftgründe – Flucht- oder Verdunklungsgefahr – ausgeschlossen waren. Rein rechtlich hätte man den nach – wenn ich mich recht erinnere – einem halben Jahr wieder rauslassen müssen, als das Verfahren auch so gar nicht voranging und sich nichts tat. Wollte man aber nicht. Man wollte eher sicherstellen, dass derjenige auf jeden Fall bestraft ist, auch wenn die Anklage nicht hält und da nur Kleinzeug herauskäme, was bei einem nicht Vorbestraften höchstens zu Bewährung geführt hätte. Den wollte man einfach vor der Gerichtsverhandlung schon mal sitzen lassen, falls das mit der Verurteilung nicht klappt. (Man hat dann im Gerichtsverfahren noch etwas „nachgeholfen“, weil man bei einer Freiheitsstrafe unterhalb der Untersuchungshaft in Erklärungsnot und Entschädungspflicht gekommen wäre.) Den Einwand, dass die Urlaubspläne der Justiz keinen Haftgrund darstellen und die eben dafür sorgen müssen, dass immer jemand im Einsatz ist, und die „Schwierigkeit des Falles“ auch nicht gegeben war, keinen Haftgrund darstellt und sowieso unsinnig war, wenn Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht in der Sache doch gar nichts machten, also auch nichts schwierig sein konnte, überging man. Als man nach einem ganzen Jahr eine Haftprüfung machen musste, und wieder eine Begründung brauchte, kam man dann erstmals auf die Idee, man könnte doch eine psychologische Untersuchung veranlassen – als ob dafür Haft nötig und die nicht früher möglich gewesen wäre. Von mehreren Gutachtern wählte man den, der die längste Terminwartedauer hatte.

Die Presse hat das damals nicht interessiert. Es ging in der Sache darum, dass ein Mann einer Frau etwas getan hatte (keinerlei sexuellen Bezug, geringfügig verletzt, war zwei Tage krank geschrieben, Täter selbst wurde dabei sehr viel stärker verletzt). Da sei das doch gerechtfertigt, jemanden auch ohne Anklage über ein Jahr in U-Haft zu lassen. Man war sich einig, dass er der Bösewicht sei, und dann würde da nicht mehr kritisch berichtet, dass sei doch nur gerecht, wenn derjenige lange einsitzen müsse.

Auch das will ich alles hier nicht bewerten.

Die Frage ist aber, auch wenn zwischen beiden Fällen über 20 Jahre liegen (was ja aber rechtsstaatlich keinen Unterschied machen sollte), warum eine U-Haft ohne Anklage von 200 Tagen in der Türkei zu Empörung führt, ohne auch nur mal in deren Gesetze zu schauen, während man hier kein Problem in Untersuchungshaft von fast 15 Monaten hat, auch wenn sie gegen die Gesetze verstößt.

Wieder mal zweierlei Maß um sich politisch opportun zu empören?

Was ist denn die „moralisch und rechtsstaatlich richtige“ Höchstgrenze für eine Untersuchungshaft ohne Anklage? Gilt da für die Türkei eine andere als für uns?