Ansichten eines Informatikers

Das Cybertrauma

Hadmut
6.5.2017 11:33

Ich komme zu dem Schluss, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft die Digitalisierung schlicht nicht verkraftet und wir es deshalb bleiben lassen sollten.

Ich hatte mich ja neulich schon mal darüber geärgert, dass die Informatik zur Vulgärinformatik wird, weil da jetzt alle Fachfremden mitmischen. Vor allem deshalb, weil immer mehr Leute in die Universitäten gepumpt werden, wo sie dann nichts mehr Broterwerbstaugliches lernen und letztlich alle dann „irgendwas mit Cyber“ machen. (Wobei ich allerdings einräumen muss, dass ich im Studentenwohnheim ein ziemlich cleveres Kerlchen als Nachbarn hatte, der Chemieingenieurwesen studiert hat, und dann ziemlich baff war, als sich herausstellte, dass der nach dem Studium dann als Redakteur bei Yahoo! arbeitete.)

Die Entgleisungen des Computer(un)wesens sind aber immer häufiger zu beobachten:

  • Jeder hat Computer, Tablet, Handy und fühlt sich deshalb als Fachmann.
  • Ständige „Jeder kann…“-Kampagnen.
  • Massive Inflation von Software, quantitativ wie qualitativ.
  • Jede Menge Leute auf dem Markt, die nichts Gescheites gelernt haben und dann da beim Rumklicken landen.
  • Viele sind als Person des Arbeitsmarktes auch schlicht überflüssig.
  • Irgendwie ist es gerade hip.
  • Genderisten und Schulpädagogen meinen, jeder müsse heute programmieren.
  • Ganze Branchen haben den Digitalisierungsschock nicht verkraftet und sind damit beschäftigt, ihr „Cybertrauma“ irgendwie zu verarbeiten.
  • Jetzt sind sie alle auf Cyber-Krieg eingestellt.

Es ist eine Frage der Zeit, wann das immer stärker anschwellende Heer der SJW und Gleichstellungsbeauftragten auch Computer zu ihrer Opferklientel zählen, weil es mehr Beschützer als Opfer gibt. Früher oder später werden sie Computer davor schützen wollen, von bösen weißen Männern patriarchalisch-diktatorisch programmiert zu werden und einen weichen, weiblichen Stil proklamieren, der die Bedürfnisse und Belange des Computers miteinbezieht. Lacht nicht, das kommt garantiert, spätestens wenn die KI sowas wie Bewusstsein vorgaukelt oder die Roboter klein und süß werden. Viele haben ja Angst, dass uns die Maschinen irgendwann intellektuell überrunden und die bösen Algorithmen immer mehr über uns bestimmen. Das wird man bald als Kulturangst und cyberphob beschimpfen und unter Strafe stellen, spätestens wenn das erste Mal irgend so ein Neuroalgorithmenexperiment bei Google eigene Wünsche haluziniert. HAL is alive.

Was mich übrigens in Zusammenhang mit der Amygdala auf den neuen Gedanken bringt, ob die mythischen Neo-Animismen, Algorithmen (den Begriff hat man sowieso nicht verstanden, aber wen kümmert sowas heute noch?) für böse und beseelt zu halten (siehe hier und hier und hier), letztlich auch nur so eine Tribalismus-Aktion der Amygdala – Menschen gegen Algorithmen – ist und man da Computer und Algorithmen für die vom bösen anderen Stamm hält.

Ein Leser weist mich gerade auf das da hin:

Hier die Kurz-Vita der „Cyberpsychologin“ vom „Institut für Cyberpsychologie“. Wäre mal die Frage, ob sie sich als Psychologin für die Menschen vor dem Computer oder als Psychologin für Computer hält (na, die würde ich ja gerne mal gegen Eliza antreten lassen).

Also ich habe jetzt ungefähr 15 Mal „Cyber“ auf dieser Webseite gezählt (man kann sich drüber streiten, ob man Menüs dazuzählt).

Und damit wird man dann auch ohne Informatik-Kentnnisse zu den „führenden Cyber-Experten“. Man muss ganz, ganz oft „Cyber“ sagen. Das hilft.

Komischerweise kenne ich keinen einzigen Informatiker oder sonst beschlagene Leute aus dem IT-Bereich, die selbst „Cyber“ sagen. Das Wort ist zwar an sich nicht falsch (Kybernetik), aber zumindest bei mir im heutigen Sprachgebrauch mit Schwätzern und Laien konnotiert. Denn unter einer „Cyber“ verstehen Informatiker (zumindest die, die die Frühzeit noch mitbekommen haben) nämlich nicht das große ganze unheimliche Computergedöns, sondern einen konkreten Rechner der CDC Cyber-Serie. Früher sagte man „das rechnen wir auf der Cyber“, und meinte damit sowas ähnliches wie wenn man heute sagt „das machen wir in der Cloud“. Nämlich das Rechnen in einem entfernten Rechenzentrum, wo so dicke Rechner stehen, dass sie nicht einem gehören, sondern jeder mal seinen Rechenjob dahinschickt.

Ich finde das übrigens immer erstaunlich, wenn die Generation „Cyber“ meint, dass sie neue, hippe Dinge erfindet und dabei letztlich nur das wieder einführt, was es vor Einsetzen ihres Bewusstseins schon mal gab, und was die letzte „hippe“ Generation meinte, als progressiv abzuschaffen.

Früher, ganz früher, gab es mal sogenannte Terminals. Es gab da zwei Typen. Die „seriellen“, die praktisch immer mit einer RS232-Schnittstelle versehen waren, damit man sich mit einem Modem in ein Rechenzentrum einwählte, und von deren Klassiker VT100 noch heute die Linux-Konsolen und xterminals abstammen, die machen nämlich im wesentlichen nichts anderes, also so ein Terminal, das per Modem an einem Unix-Zentralrechner angeschlossen ist, zu simulieren. Viele wissen heute nur nicht mehr, woher der ganze Unix-Zauber eigentlich kommt. Und es gab die Block-Terminals, die gab’s auch mit RS232, aber auch anderen Schnittstellen, und die ihre Inhalte immer seitenweise als Maske angezeigt haben, von der man immer in komplett neue Masken gesprungen ist. Wer BTX noch kennt: Das war auch sowas. Konnte man früher in Reisebüros und sowas sehen, die haben damit schon früh Reisen gebucht.

Web-Browser sind im Prinzip nichts anderes als die alten Block-Terminals. Nur mit einer anderen Beschreibungssprache für die Seiteninhalte und graphischen Fähigkeiten.

Und die hippe Cloud ist auch nichts anderes als die Wiederkehr des alten Rechenzentrums mit Mainframes und geballter, mietbarer und nach Bedarf verteilter Rechenleistung. Früher hat man das so gemacht, dass man seinen Rechenjob ins Rechenzentrum geschickt hat und dann dafür nach Rechenzeit eine Rechnung bekommen hat (Lest mal das Kuckucksei, da hat einer den Russenhack aufgedeckt, weil die Abrechnung um ein paar Cent abwich). Da kommt übrigens auch die Bezeichnung „Account“ her. Das war das Konto, auf das die Rechnungen für die Rechenzeit gebucht wurden.

Dann kam die PC-Ära, des Personal Computers, und jeder fand das auf einmal toll, seine Rechenleistung vor sich auf dem Tisch stehen zu haben und sie kostenlos und schnell nutzen zu können, und Rechenzentren waren plötzlich als teuer, alt, verstaubt, rückständig verschmäht und wurden abgebaut.

Und dann kam irgendwann die Virtualisierung zusammen mit dem Internet, gepaart mit der Miniaturisierung, als es dann plötzlich schick war, kein Kapital mehr anzulegen und kleine leichte Rechner wie Smartphone und Tablet zu nutzen und sich nicht mit Hardware herumzuplagen, und auf einmal war das Prinzip des alten Rechenzentrums mit großen Mainframe-Rechnern, mit denen man sich per Terminal verbindet um dort seine Jobs zu rechnen und sich den Rechenaufwand in Rechnung stellen zu lassen, wieder da.

Und eine ganze Branche lebt davon zu ventilieren, dass das was ganz tolles und neues wäre, dabei haben wir eigentlich gar nichts neues erlebt, sondern im Gegenteil den Tod von etwas altem: Dem PC. Es wird nicht mehr lokal gerechnet (schon, aber nicht mehr die Hauptarbeit), sondern der PC reduziert sich wieder mit Browser zum alten Block-Terminal, und so, wie wir die alten VT100-Terminals virtuell simulieren, werden jetzt ganze PCs virtuell in Rechenzentren simuliert. Back to the Roots.

Und weil 99,9% derer, die heute auf Cyber machen, nicht wissen, was da passiert, und alle glauben, es wäre da was fundamental Neues, haben sie alle Pseudo-Traumata, mit denen sie nicht klarkommen.

Nachtrag: Ein Leser schreibt gerade, dass er bei der Softwarequalität eher eine Deflation sieht (Qualität immer schlechter). Ist halt immer die Frage, ob man etwas beim Begriff Inflation mit Geld oder dem gekauften assoziiert. Auf Heise gibt es gerade einen Artikel, wonach die App-Flut mit Apples iPhone dazu geführt hat, dass Software an sich als nicht mehr wertig, sondern billige Massenware wahrgenommen wird, und deshalb auch versucht wird, sie mit immer weniger Arbeitszeit und Sorgfalt zu produzieren.