Ansichten eines Informatikers

Hirn und Mist

Hadmut
28.8.2023 23:01

Eine Frage.

Warum tendiere ich dazu, einzelne Dinge manchmal deutlich über deren Nutzdauer aufzubewahren, obwohl rational betrachtet die Wahrscheinlichkeit, sie noch einmal zu brauchen, gering ist, denn man könnte es ja noch einmal brauchen, man weiß ja nie, wer weiß, was es dann kostet oder ob man es noch einmal bekommt, während ich dann, wenn ich mal im großen Aufräumen und Ausmisten bin, völlig problemlos kistenweise alles rauswerfe, was keine Miete zahlt?

Könnte es darin liegen, dass man dann, wenn man viel rauswirft, eher das Missverhältnis von Aufbewahrungskosten zu Nutzen sieht?

Oder ist es ein anderer Effekt, hat es mit der Corona-Pandemie bzw. deren Abstreifen zu tun?

Mir geht nämlich folgendes durch den Kopf. Als das mit der Pandemie los ging, hatte ich mich – von Berufs wegen – relativ früh um das Thema gekümmert und schon im Januar 2020 darüber geschrieben, dass die Masken knapp werden und nach China gehen. Zu einem Zeitpunkt, als die Bundesregierung noch nicht wusste, was Pandemie ist, und die Medien noch Wochen davor waren, Corona für eine rechtsradikale Verschwörungstheorie zu halten. Ich hatte mir damals noch Masken beschafft, solange ich gerade noch welche bekommen habe und bevor die öffentlich überhaupt im Gespräch waren. Damals hieß es noch, man bräuchte FFP3-Masken, weil nur die Partikel in Virengröße aufhalten, später hieß es, FFP2 reicht, weil die Corona-Viren so groß seien. (Freilich hatte ich damals die falschen gekauft, weil es damals – eigentlich Staubschutzmasken zum Arbeiten – alle noch Ausblasventile hatten. Das macht das Tragen angenehmer und ändert wohl nicht viel an der Wirksamkeit für den Träger, war aber nicht zugelassen, weil es das Ausatmen nicht filtert. Andere gab es aber schon nicht mehr.)

Damals habe ich mir auch noch schnell Regale für die Küche gekauft und sie mit Konserven, Nudeln und solchem Zeug vollgepackt.

Dann wurden Nudeln und Klopapier knapp,

Bunkern war angesagt, und alle waren im Bunkermodus. Und in kurzer Zeit war meine vorher luftige, offene Wohnung vollgestopft. Der Esstisch zur Videokonferenzstation umverkabelt. Und so weiter.

Könnte es sein, dass sich solche Knappheits- und Krisensituationen darauf auswirken, ob wir Dinge aufbewahren oder leichter wegwerfen, und dieser Effekt gerade wieder nachlässt?

Ich hatte schon einige Male über eine Beobachtung berichtet, die mir dazu gerade wieder einfällt. Mein Vater hat sich in einer Hinsicht zeitlebens nie davon erholt, als Kind den zweiten Weltkrieg, Flucht und Hunger erlebt zu haben: Er konnte nichts wegwerfen. So eine Art Messie-Syndrom. Ich hatte als Schüler mal einen großen Haufen alter Zeitschriften zum Altpapier rausgeschafft, am Morgen der Abholung ca. 20 Säcke vor das Haus auf den Gehweg gestellt, und bin dann zur Schule gegangen. Als ich wieder kam, stellte ich fest, dass er sie alle wieder reingeholt hatte – es könnte ja sein, dass man sie nochmal lesen muss. Jahre, Jahrzehnte alte Zeitschriften.

Im Keller gab es eine große Dose, fast ein kleines Fässchen voller alter Schrauben. Über Jahrzehnte hatte er jede Schraube gesammelt, die irgendwo anfiel. Krumm, verrostet, ausgefressen – egal. Völlig nutzlos, weil man darin sowieso nichts fand. Unmöglich, darin vier gleiche Schrauben zu finden. Und wenn, dann krumm und verrostet. Diskussion darüber. Ja, es könnte ja sein, dass man mal irgendwann eine spezielle Schraube brauche, und dann habe er sie griffbereit (von wegen, man findet ja nichts darin). Warum er das Ding nicht wegwirft, und stattdessen im Baumarkt ein paar Schraubensortimente kauft, dann hat er alles, übersichtlich, sortiert, in neuwertigem Zustand, von jeder Sorte mehrere gleiche. Nein, nein, das gehe nicht, weil man ja dann, wenn man sie brauche, nicht wisse, ob man dann welche bekomme. Aber, sagte ich damals, jetzt bekommt man sie. Und wenn das Schraubenfass auf Vorratshaltung beruhe, dann könnten das auch ordentliche Schraubensortimente.

Aussichtslos.

Ich stellte fest, dass es ihm gar nicht darum ging, ein Sortiment an Schrauben vorrätig zu haben, sondern darum, gebrauchte Schrauben zu sammeln, niemals Schrauben wegzuwerfen.

Und so ging das mit vielem.

Tütensuppen und dergleichen. Obwohl ein hervorragender Koch stets einen Stapel dieser Tütendinger im Schrank, mit denen man alles anrühren kann. Man weiß ja nie. Irgendwann zettelte ich ungewollt einen Familienkrach an. Ich hatte die Dinger mal durchgesehen und festgestellt, dass viele der Tüten schon 10, 15 oder sogar 17 Jahre über das Verfallsdatum hinaus und eine sogar von irgendwelchen Insekten angefressen worden war. Ich wollte sie wegwerfen. Hätte ich nicht tun sollen. Man weiß ja nie, ob man sie noch einmal … Ja, gut, sagte ich, aber die Dinger kosten 30, 50, 70 Pfennig. Die könnte man doch mal durch frische ersetzen. Riesenkrach. Fühlte sich persönlich angegriffen, weil ich seine Tütensuppen anzweifelte.

Ich habe das dann einfach aufgegeben, weil der Zusammenhang mit dem Weltkrieg nicht nur offensichtlich war, sondern er das auch immer wieder ansprach. Wenn ich eine 50-Pfennig-Tütensuppe mit seit 15 Jahren abgelaufenem Haltbarkeitsdatum wegwerfen wollte, hieß es, ich hätte ja noch nie Hunger leiden müssen. Es leuchtete mir ein, dass es sinnvoll ist, Tütensuppen im Haus zu haben. Es leuchtete mir aber nie ein, warum die Tütensuppen so alt sein mussten wie ich, und nicht erneuert werden können. Als ob ich in der größten Not nur Tütensuppen meines eigenen Jahrgangs essen könnte, um zu überleben. Ich habe ihm mal eine Freude gemacht, als ich ihm dann von meiner Bundeswehrzeit eine Nato-Ration, ein EPA mitbrachte.

Offenbar passierte da bei ihm als Kind etwas im Kopf, was nicht mehr reversibel war. Hunger, Krieg, Bombardierung, Flucht und als Kind Bomben entschärft und tote Russen aus der Elbe gefischt.

Ich habe dann auch nicht mehr versucht, daran etwas zu ändern. Das war mir klar, dass das nicht mehr geht, dass er für den Rest seines Lebens aufbewahren und sammeln wird. Alte Schrauben. Alte Zeitschriften. Alte Tütensuppen. Alles.

Mir geht die Frage durch den Kopf, ob die Corona-Pandemie eine ähnliche Wirkung hatte, natürlich viel kleiner, schwächer, kürzer, es war ja mit dem zweiten Weltkrieg nicht zu vergleichen, aber möglicherweise vom Prinzip her ähnlich.

Natürlich muss man davon das rationale Handeln unterscheiden. Der Grund für den Lebensmittelvorrat in meiner Küche war einfach die Überlegung, was ich machen würde, falls ich positiv getestet und unter Quarantäne gestellt würde, also 2 oder 4 Wochen die Wohnung nicht verlassen dürfte, aber keiner mehr da ist, der mir etwas zu essen bringen könnte. Oder der Supermarkt schließen müsste. Es ist durchaus rational, ausreichend haltbare Lebensmittel auf Vorrat zu haben, wenn diese Situation droht.

Könnte es aber sein, dass sich diese Lage dann auch auf andere Verhaltensweisen auswirkt? Alte Elektrogeräte? Dass man in Krisensituationen generell dazu neigt, das Zeug zu behalten?

Es gibt ja sogar Studien, dass sich nicht nur Kriegskinder, sondern auch deren Kinder anders verhalten, und dabei die Frage der Epigenetik, also kurzfristiger Anpassungen an Umweltsituationen.

Einige Jahre war ich sehr zurückhaltend beim Rauswerfen alter Dinge, ach, das könnte man nochmal brauchen, und da weiß man ja nie, und auch den könnte man nochmal … und urplötzlich ist bei mir wieder der Drang erwacht, richtig auszumisten.