Ansichten eines Informatikers

Gesichtsblindheit

Hadmut
21.11.2022 21:45

Wie sich das anfühlt.

ich finde das wunderbar. Ich kann nach allen möglichen Sachen fragen, Ländern, Sprachen, Autismus oder was auch immer, und immer findet sich jemand, der antwortet.

😀

Ich hatte über Deep Fakes berichtet, dazu diesen Tweet gezeigt (der angeblich sogar etwas älter ist)

und den ich als lustig und es als Spaß empfinde, all die Schauspieler da auftauchen zu sehen. Ich sehe da (oder glaube zu sehen)

  • John Malkovich
  • vielleicht (nicht ganz sicher) Collin Firth
  • Robert de Niro
  • Tommy Lee Jones
  • den mit Schnurrbart erkenne ich nicht, sieht so ein bisschen nach Ted Levine aus
  • George Clooney
  • dann einer, den ich zu erkennen glaube, aber dessen Name mir nicht einfällt, ich musste irgendwie aber an Martin Landau denken
  • dann einer, den ich nicht (er)kenne,
  • noch einer
  • dann vielleicht Nicholas Cage
  • natürlich Arnold Schwarzenegger
  • Morgan Freeman in weiß
  • einen, den ich nicht erkenne
  • Christoph Waltz
  • Vielleicht Robin Williams? Einen Moment dachte ich, Steve Martin zu sehen
  • weiß nicht, Charlton Heston vielleicht? Joe Biden?
  • beim nächsten muss ich an George W. Bush denken, der ist aber kein Schauspieler,
  • Ian McKellen und/oder Patrick Stewart
  • Wieder einer, den nicht kenne

aber wie mache ich das?

Ich weiß es nicht.

Beim Kopfrechnen könnte ich erklären, wie ich vorgehe, aber hier nicht. Ich sehe einfach, ich weiß einfach, der sieht wie George Clooney aus. Und ich muss nicht lange überlegen. Ich muss nicht überlegen, wer hatte nochmal eine dicke Nase oder so schräge Augen. Oder ein kantiges Kinn. Der sieht einfach nach Schwarzenegger aus, so wie die Farbe blaub nach blau aussieht.

Und das ist seltsam. Denn es ist mir auch schon passiert, dass ich Leute wiedererkannt habe, ich bin sogar recht gut darin, Gesichter wieder zu erkennen, mir fällt dann nur oft nicht ein, wer das ist. Den kenne ich. Verdammt, woher kenne ich den, wer ist das? Ich habe das Gesichtsmuster abgelegt und es hat gepasst, aber es hängt kein Zettel dran.

Noch schräger ist, wenn ich im Büro seit Jahren mit Leuten zusammenarbeite, und dann treffe ich den zufällig in der Stadt und mir fällt ums Verrecken der Name nicht ein, weil das Gehirn bei mir offensichtlich Kontexte an. und die Personen in die Schublade legt. Und wenn Feierabend ist und ich woanders bin, dann ist die Schublade einfach zu, verriegelt und verrammelt bis zum nächsten Morgen. Mir fällt in der Stadt dessen Name nicht ein, aber morgens in der Firma kann ich ihn normal begrüßen. Es gibt da anscheinend Partitionen.

Mir fällt auch nicht zu jedem Schauspieler der Name ein, aber immer ein Film, in dem er mitgespielt hat. Nur nicht immer der Name des Films. Aber immer die Handlung.

Wenn ich eine Rechenaufgabe sehe, und die nicht gerade trivial wie 3·4=? ist, kann ich sie lösen und ich kann es bleiben lassen. Ich kann ohne weiteres ausrechnen, wieviel 17·8 ist, aber ich muss nicht. Ich kann es auch bleiben lassen. Ich kann es aber nicht bleiben lassen, Arnold Schwarzenegger zu erkennen. Ich kann mich nicht entscheiden, jetzt mal für eine Stunde keine Gesichter zu erkennen. Die sind einfach da. Unabhängig davon, ob ich will oder nicht, und ohne jede Anstrengung, ohne jedes bewusste Zutun. Erst wenn ich beispielsweise Zwillinge auseinanderhalten soll, dann muss ich nachdenken. Der eine hatte eine etwas schmalere, höhere Nase.

Irgendwo steckt da irgendwas in meinem Gehirn, was ohne die Steuerung meines Bewusstseins Gesichter erkennt, Muster erkennt.

Gab es nicht mal einen Mann, der von einem Unfall eine vorrübergehende Gehirnbeeinträchtigung davontrug, oder so ähnlich, und dann berichtete, dass er seine Freunde nicht mehr erkannte, von Leuten nicht wusste, ob er mit denen was zu tun hatte oder nicht, aber sofort wusste, ob er mit denen ein gutes Verhältnis hat oder nicht. Vermutlich: Ob er zum selben Rudel gehört. Man sagt ja, dass der Unterschied zwischen einem Rudel und einer Herde ist, dass im Rudel jedes Individuum jedes andere kennt, in der Herde dagegen Anonymität herrscht.

Deutet das nicht darauf hin, dass die Gesichterkennung der schnellen Freund-Feind-Erkennung dient, um schnell genug entscheiden zu können, ob man sicher ist, oder sich sofort verteidigen muss?

Deutet das nicht darauf hin, dass es die Amygdala ist, die Rudelmaschine, die dafür sorgt, dass wir beim Zusammentreffen sehr schnell erkennen könnne, ob ein Rudelgenosse oder nicht?

Ich hatte deshalb die Frage gestellt, wie dieses Video auf Leute mit Gesichtsblindheit wirken mag.

Und es haben mir Leser mit Gesichtsblindheit geantwortet.

Hallo Hadmut,

als einer, der an Gesichtsblindheit leidet, darf ich zu Protokoll geben:

Wenn ein Schnurrbart auftauchte, habe ich es bemerkt.

Also klar, es waren mehrfach Stimme und Habitus verändert, aber ich stelle mir jetzt wieder einmal die Frage: Wie erkennen normale Menschen Gesichter?

Viele Grüße

Das Problem: Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich weiß nicht, wie ich Gesichter erkenne.

Was man sicherlich sagen kann, ist, dass man einzelne Partieen abdecken kann und man immer noch viel erkennt. Als Informatiker würde ich sagen, dass es vielleicht so eine Art Normgesicht gibt, so ein Durchschnittsgesicht (hat man ja auch synthetisch erzeugt, indem man aus tausenden Portraitfotos ein Durchschnittsgesicht erechnet hat) und dann die Abweichungen davon erfasst. Die Form das Gesichtes, Position von Mund, Nase, Augen, Form, Gestik, Mimik, charakteristiische Eigenheiten wie Muttermale (Cindy Crawford hat sich ihres mit Bedacht eben nicht entfernen lassen), und es gibt ja diese Testbilder, bei denen ein Gesicht verkehrtherum steht, aber Mund und Augen um 180° gedreht sind, also noch normal stehen. Offenbar hat es damit etwas zu tun, Die Gesichtsgeometrie.

Und eine Leserin:

Hallo Hadmut, ich bin Synästhetiker und gesichtsblind (vielleicht ändert das ja was an deinem Forschungsinteresse oder den Auswirkungen bei mir). Ich sehe in dem Video ein und denselben Mann. Die Veränderungen sind so marginal für mich, dass er zwar hier und da eine andere Frisur hat oder Schnäuzer, aber es immer derselbe Mann ist, der mal mehr, mal weniger grimassiert. Auch die Unterschiede in der Stimme und die Art zu sprechen laufen bei mir ins Leere. Zum Test, weil ich im Alltag dann auf andere Dinge wie Kleidung, Gestik oder den Begegnungskontext achte, um nicht unangenehm aufzufallen und Leute zu brüskieren, habe ich mir nur das aufgezoomte Gesicht ohne Hemd und Umgebung angesehen. Es bleibt der selbe Typ.

Interessant ist, dass mein Mann sofort alle möglichen Schauspieler erkannte. Während mir zwar die Namen (und umständehalber nur bedingt die Gesichter) geläufig sind, habe ich aber in dem Video niemanden spontan „erkannt“. Es hat also bei mir nichts getriggert. Nicht mal soweit, dass ich eine Ahnung davon entwickelt hätte, was es hätte triggern sollen.

Und das nun verstehe ich zumindest spontan gar nicht.

Ich verstehe, wenn mir jemand sagt, dass sich die Gesichter verändern, er sie aber nicht erkennt.

Wie aber kann jemand trotz der Veränderungen erkennen, dass es immer derselbe ist?

Das ist doch eigentlich noch viel schwieriger, oder macht man es an der gleich bleibenden Kleidung und Frisur fest? Mir hat schon mal jemand gesagt, dass Gesichtsblinde Leute nicht am Gesicht, aber am Gang, an der Art sich zu bewegen, erkennen können. Möglicherweise sind es genau diese Merkmale, die beim Deep Fake invariant bleiben.

Wo liegt die Stelle im Gehirn, an der die Ursache für die Gesichtsblindheit liegt?

Oder noch wichtiger: Wo findet die Gesichtserkennung statt, wenn sie funktioniert?

Der Umstand, dass es sich um Mustererkennung handelt und es offenbar unmittelbar mit der Freund-Feind-Erkennung zu tun hat, könnte auf die Amygdala hindeuten.

Die Frage ist: Haben Gesichtsblinde noch andere Ausfallerscheinungen (von denen sie vielleicht noch nichts wissen), die diesen Verdacht erhärten können?