Ansichten eines Informatikers

Das e-Rezept: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?

Hadmut
10.8.2022 12:26

Wenn sich Politik, Gesundheitswesen und IT vermischen und das Ergebnis blanker Murks ist.

Ich habe mich mit dem Thema noch nicht näher beschäftigt und kenne mich damit nicht aus. (Und bevor mir wieder Leser schreiben, ich solle mich da mal „reinlesen“ oder „einarbeiten“: Nein, ich habe weder Zeit, Lust, noch Veranlassung mich wieder in irgendein Thema „einzuarbeiten“, das mich überhaupt nicht interessiert und mir nichts bringt.)

Aber ein Leser, der einen kennt, der für einen Arzt in seiner Familie die IT macht, schreibt mir:

Zentrale Gesellschaft mit teils mafiösen Strukturen ist die Gematik GmbH. Das ist im Prinzip eine Unterabteilung des Gesundheitsministeriums, das mit 51% Anteil am Unternehmen auch die Mehrheit darstellt. Jens Spahn hatte da wohl auch mal einen Aufsichtsratsposten bei der Gematik, oder hat noch, ich weiß es nicht – kann man sicher herausfinden.
Sinn der Gematik ist, die digitale Infrastruktur für Ärzte und Apotheken zur Verfügung zu stellen. In einer quasi staatlichen Einrichtung heißt das, dass das System langsam agiert, nicht auf dem aktuellen Stand der Technik ist, sich umständliche und nicht stringente Prozesse ausdenkt und zudem noch ordentlich teuer ist.

Der Gematik zur Seite steht das “Deutsche Gesundheitsnetz”, kurz DGN, welches auf seiner Webseite mit den recht esoterischen Worten “ganzheitlicher IT-Dienstleister” wirbt. Das DGN liefert die Hardware (die es natürlich nicht selber herstellt), als da sind: der zentrale Praxisausweis, die Connector-Hardware, die Kartenlesegeräte für die Krankenkassenkarten etc. Die Connector-Hardware ist im prinzip sowas wie ein Zugangs-Router mit ein wenig Drumherum, und natürlich irre teuer. Das DGN übernimmt auch die Aufgabe der Ausweis- und Zertifizierungsstelle, d.h. die agieren auch als Trustcenter und erstellen die digitalen Zertifikate – so wie Verisign, nur eben teurer.

Die Chipkarten, so wie der Praxisausweis, kosten natürlich nicht nur einmalig Geld für das Einrichten und das Zertifikat, sondern eine monatliche Gebühr. Weitere Kosten, die mir in dem zusammenhang genannt wurden, sind für: Wartung des VPN-Tunnels (was muss man da warten? Hat der eine Beleuchtung, wo man dann die durchgebrannten Birnen tauschen muss?), oder ein Firmwareupdate – dieses kostet jeweils 500 EUR. Prinzipiell kann man das Firmwareupdate selbst durchführen, mein Kollege mit entsprechend IT-Erfahrung aus seiner Vergangenheit macht das auch. Laut seinen Aussagen ist das aber von der Komplexität her nicht zu vergleichen mit dem, was wir in der IT von Firmwareupdates her kennen – es ist wohl komplizierter. Und wer sich nicht damit auskennt (vermutlich 98% der Ärzte, da einfach kein entsprechendes EDV-Wissen vorhanden ist), zahlt halt pro Update 500 Flocken an das DGN.

Eine Nachfrage beim DGN kostet ebenfalls eine Bearbeitungsgebühr, z.B. wenn man wissen will, was es bedeutet, wenn die von ihnen gelieferte Software “Error-400” anzeigt, was natürlich in der Doku nicht erklärt wird. Ach ja, die Kartenleser zum Lesen des Praxisausweises werden alle 5 Jahre komplett ausgetauscht, kostet je etwa 600 EUR.

Jetzt zu den zwei wichtigsten “Digitalprojekten” der Gematik: die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (EAU) und das e-Rezept.

Das e-Rezept soll meine ich September 2022 flächendeckend realisiert sein. Ursprünglich war Juli 2021 im Gespräch, das hat natürlich nicht geklappt. Dann haben sie eine Testregion in Berlin+Brandenburg definiert, mit “ausgewählten” Ärzten und Apotheken. Haben sie aber auch nicht hinbekommen. Trotzdem wollen sie jetzt im September starten. Wie Du immer gern schreibst: das wird lustig! Denn dummerweise gibt es bisher immer noch kaum Apotheken, die das e-Rezept einlösen können, denn dazu brauchen sie die entsprechende Infrastruktur. Diese kostet bei wenig Mehrwert jede Menge Geld.

Der Prozess ist in etwa so: Der Arzt will ein Rezept ausstellen. Das wird nicht mehr auf Papier gedruckt, sondern in einer Cloud gespeichert. Der Patient braucht zum Einlösen zwingend ein Smartphone mit einer bestimmten App darauf. Um sich an der App anzumelden, braucht der Patient zum einen ein NFC-fähiges Handy, zum anderen eine Krankenkassenkarte, die über einen NFC-Chip verfügt. Hat er beides und kennt er auch noch die zugehörige PIN, so kann er sich mittels seiner Krankenkassenkarte an der App anmelden. Er kann dann mit der App einen QR-Code erzeugen und auf dem Smartphone anzeigen lassen. Der Apotheker scannt dann den QR-Code und kann mit diesen Informationen die Verschreibung des Arztes aus der Cloud laden. Da muss man doch zugeben: Mensch, warum ist da nicht schon früher einer drauf gekommen, das so kompliziert zu machen!?
Ich bin sehr gespannt, wer einem Rentner mit vielleicht 80 Jahren dieses Verfahren erklärt. Solche Dinge wie: die alte Frau ruft den Arzt an und bestellt ein Rezept, der Sohn holt das dort ab, löst es ein und bringt ihr die Medikamente beim nächsten Besuch einfach mit, die gibt es dann natürlich nicht mehr.

Die elektronische Krankschreibung, kurz EAU, sollte seit Juli 2022 funktionieren. Angeschlossen daran ist die kassenärztliche Vereinigung. Die EAU soll wohl vorwiegend dafür sorgen, dass die Patienten nicht mehr vergessen können, den Durchschlag der Krankschreibung an die Krankenkassen zu senden.

Prozess ist so: Arzt schreibt Patient krank, das macht er am PC. Dieser sendet über die Telematik an eine Cloud – möglicherweise dieselbe Zieladresse wie beim e-Rezept, das weiß ich nicht. Die Cloud meldet zuück: “Habe erhalten” oder “Zustellung fehlgeschlagen”. Letzteren returncode schickt die Cloud auch, wenn es nicht gelungen ist, die Info an die entsprechende Krankenkasse weiterzureichen. Und: die Rückmeldung kann bis zu 12 Stunden dauern!

Die Vorstellung des Gesundheitsministeriums war nun die: Wenn die Übermittlung an die Krankenkasse fehlgeschlagen ist (derzeit bei ca. 70% aller Vorgänge der Fall), dann soll DER ARZT die AU ausdrucken und per Post verschicken. Alles klar?
Aber da ist ja nun noch der Arbeitgeber, der manchmal auch wissen will, ob ein nicht erscheinender Mitarbeiter tatsächlich krank ist oder einfach nur keine Lust zum Arbeiten hat. Der kann sich dann in einem Portal im Internet bedienen. Genaueres darüber weiß ich noch nicht, aber ich bin sicher, dass es umständlich und teuer sein wird.

Keine Ahnung, ob das so stimmt oder der mir einen vom Pferd erzählt, ich stecke da nicht drin. Vielleicht melden sich ja fachkundige Leute, ich habe ja viele Ärzte unter den Lesern.

Aber aus Sicht des Informatikers hört sich das nach gewaltigem Murks und Stümperei an.

Als sei das von einem Rudel Universallaien verschiedener Fachrichtungen zusammengenagelt worden.

Warum braucht ein Patient ein Smartphone, noch dazu ein NFC-fähiges (was, zugegeben, heute technischer Standard ist, aber man ist weder verpflichtet, eines zu haben oder dafür einzusetzen, zumal mir persönlich enorm auf den Sack geht, wer inzwischen alles von mir verlangt, eine App zu benutzen, weshalb ich die jetzt schon über drei Smartphones verteilt habe, damit ich unterwegs nicht immer das ganze App-Gerümpel rumschleppen muss.) Und damit und mit einer PIN und der Krankenkassenkarte an der App anmelden um dem Apotheker einen QR-Code anzuzeigen, damit der das Rezept aus der Cloud runterladen kann. Ja, verdammt, wo ist denn da die Block-Chain? Und das Flug-Taxi?

Was für ein hanebüchener Schwachsinn. Warum ist die Gesundheitskarte nicht gleich so gebaut, dass man den ganzen Blödsinn nicht braucht und einfach in der Apotheke die Gesundheitskarte an den Leser hält und fertig?

Oder: Warum brauchen wir überhaupt eine Gesundheitskarte? Wenn doch da sowieso Name und Anschrift draufstehen? Das Ding war ja ursprünglich mal eingeführt worden, um offline nachzuweisen, dass man noch versichert ist. Was die Karte als solche ja nicht tut, zumindest nicht, solange sie nicht abgelaufen ist. Erst, wenn sie abgelaufen ist, und ich keine neue vorlegen kann. Es würde völlig reichen, wenn man den elektronischen Personalausweis beim Arzt vorzeigt, und der dann online abfragt, ob ich versichert bin, und wenn ja, wo.

Manchmal habe ich bei Digitalisierung in Deutschland den Eindruck, dass da irgendwelche Stümper aus dem politischen Bereich unterwegs sind, und man unter „Digitalisierung“ versteht, dass möglichst viele Bullshit-Bingo-Buzzwords reingerührt werden: Smartphone, App, NFC, QR-Code, Chipkarte, sonst auch immer wieder gerne Block-Chain. Und mindestens fünfmal „smart“ sagen.

Oder wenn ich diesen Mist mit der Krankschreibung lese, was zu tun sei, wenn sie nicht fehlerfrei übermittelt wurde. Sind wir in der Steinzeit, oder was!? Das Thema dazu ist in der IT längst gelöst und abgefrühstückt, es heißt „Message Queue“. Sowas ist beherrschte Technik und längst Standard in Business-Prozessen. Cloud-Anbieter bieten sowas als fertiges Image zum Starten per Anklicken an. Und dann bekommt man so einen Scheiß zu lesen, der sich anhört wie aus der Frühzeit des Internets?

(So ganz nebenbei: Die Prinzipien, die dem Message Queues zugrundeliegen, sind auch nicht gerade neu. Jedes Ordinäre Mail-Relay arbeitet nach diesen genau 40 Jahren (RFC 821 über das Simple Mail Transfer Protocol SMTP, das im Wesentlichen heute noch verwendet wird, stammt vom August 1982) alten Techniken (Zwischenpuffern, Quittieren, Wiederholungen bei Scheitern, usw.).

Dieser ganze Käse sieht für mich als Informatiker aus, als ginge es der Problemstellung nach insgesamt nur um einen einzigen großen Messsage-Queue-Bahnhof, der Nachrichten zwischen Ärzten, Patienten, Krankenkassen, Apotheken (und ähnlichen Dienstleistern oder Händlern wie Physiotherapeuten usw.) und Arbeitgebern verteilt. Und das ist eigentlich keine allzuschwere Aufgabe. Das weiß man, wie man sowas macht und baut. Stattdessen aber murksen da irgendwelche Stümper daran herum, wie man Rezepte mit irgendwelchen IT-Buzzwords simulieren kann, wie man dem Apotheker eine App mit QR-Code vor die Nase hält statt ihm ein Rezept zu geben, weil man das aus Laiensicht eben so unter „Digitalisierung“ versteht: Handy zücken, QR-Code zeigen, wie bei der Kinokarte oder am Flughafen. Völlig gaga. Da haben Leute nicht verstanden, was Digitalisierung ist.

Digitalisierung ist nicht, alte Prozesse aus der mechanischen Zeit so nachzuahmen, dass sie jetzt Strom brauchen. Digitalisierung fängt damit an, die Prozesse als solche zu überarbeiten, zu identifizieren, neu zu organisieren und zu strukturieren. Und das hat hier offenbar gar nicht stattgefunden, weil man versucht, alte Prozesse mit Digitalgedudel (Handy, NFC, QR, Cloud) nachzubasteln.

Da fragt man sich:

  • Stimmt das wirklich?
  • Und wenn ja: Was sitzen da für unfähige Leute? Wie kann man denn so einen Murks bauen?
  • Was verstehen die eigentlich unter „Digitalisierung“? Irgendwas mit Computern und Internet?
  • Warum um alles in der Welt baut man Smartphones und Apps in ein so komplexes System ein? Smartphones sind modeabhängig und werden alle paar Jahre technisch umgewälzt. Will man dann jedes Mal das Gesundheitswesen umbauen?
  • Was genau ist da jetzt eigentlich der Vorteil gegenüber dem Papier-Rezept? Dass jetzt irgendwelche Parteispezis dick dran verdienen?
  • Wer ist für den Schrott eigentlich verantwortlich? Wer hat das gemacht?