Ansichten eines Informatikers

Die Psychologie der Massen

Hadmut
28.5.2022 17:12

Eine weitere Leserzuschrift.

Ein Leser schreibt zur Theorie der Dummheit:

Guten Tag Herr Danisch,

zu Ihren Bemerkungen passen die Ausführungen, welche Gustave le Bon bereits 1895 in seinem Buch “Psychologie der Massen” beschrieben hat.

https://de.wikipedia.org/wiki/Psychologie_der_Massen

“Le Bon vertritt die Auffassung, dass der Einzelne, auch der Angehörige einer Hochkultur <https://de.wikipedia.org/wiki/Hochkultur>, unter bestimmten Umständen in der Masse seine Kritikfähigkeit verliert und sich affektiv, zum Teil primitiv-barbarisch <https://de.wikipedia.org/wiki/Barbarei>, verhält. In der Masse entsteht eine, alle in ihr integrierten Einzelwesen umfassende „Gemeinschaftsseele“. In dieser Situation ist der Einzelne leichtgläubiger und unterliegt der psychischen Ansteckung („contagion“). Somit ist die Masse von Führern <https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BChrer_(Politik)> leicht zu lenken, die Le Bon nicht ohne Ironie als „Halbverrückte“ und „wahrhaft Überzeugte“ kennzeichnet; denn nur die selbst Überzeugten sind auch die wirklich Überzeugenden.”

Das passt zu Ihrer Feststellung.

Das passt genau. Es dürfte genau dieser Effekt sein.

Ich will dann auch noch einen draufsetzen. Irgendwo, jetzt nicht parat, irgendwo in den Tiefen meiner Bücherstapel habe ich noch ein Buch „Groupthink“, das eben diesen Effekt noch einmal in modernerer Hinsicht beschreibt. Leute sind zu wirklich jedem Schwachsinn bereit, und denken überhaupt nicht mehr kritisch, solange sie sich mit anderen darin einig sind.

Gibt es das auch im Kleinen?

Mir gehen da noch zwei andere Beobachtungen durch den Kopf, die allerdings viel kleiner sind, und mit diesem Effekt im Großen nicht zu erklären sind. Womöglich gibt es diesen Effekt auch nochmal viel kleiner, dafür schneller.

Ich hatte beschrieben, dass ich früher mal neben einem Kindergarten gewohnt habe, und die Eltern, die auf der Straße warteten, um die Kinder abzuholen, sich unbeschreiblich aggressiv, pöbelhaft, wie eine Bande aufspielten, mit Gewalt drohten und sich vor ihren Weibern aufspielten. Als ich einen der Typen, die mir in der Gruppe mal übel gedroht hatten, mal einzeln auf dem Supermarktparkplatz gesehen und den mal einzeln angesprochen hatte, was ihm eigentlich einfällt, war der auf einmal ganz klein, ganz leise und völlig friedlich, auf einmal sehr, sehr konzilliant. Ein anderer Mensch.

Ich habe ja oft Vorträge, Workshops, Schulungen und sowas gehalten. Noch intensiver natürlich damals an der Uni, wo ich damals Übungen, gelegentlich Vorlesungen gehalten habe. Dabei ist mir etwas aufgefallen. Eigentlich nämlich war ich damals noch ziemlich gut im Kopfrechnen (heute nicht mehr so). In der Grundschule war ich fast dauerhaft der „Rechenkönig“. Stand ich aber in der Vorlesung vor den Leuten, damals noch am Overhead-Projektor, konnte ich zwar – nach ein paar stockenden Eingangssätzen, die mir noch schwer fielen, nach drei, vier Minuten, so ab etwa der dritten, vierten Folie – plötzlich besser, flüssiger, eloquenter sprechen als sonst, dafür aber nicht mehr Kopfrechnen. Als ob da irgendwas umschaltet. Als ob ich gerade einige rationale Fähigkeiten zugunsten sozialer Fähigkeiten temporär abgeschaltet hätte.

Ich weiß, dass es Kollegen gab, die sich mit sowas immer sehr schwer taten, weil die unglaublich Lampenfieber hatten. Das war für die eine Qual, sich vor Publikum zu stellen. Sowas hatte ich nie, nicht in dem Sinne, dass es mich irgendwie abhielte. Aber so eine seltsame, spezifische Nervosität und leichte Anspannung so in den letzten Minuten, bevor es los geht, hatte ich schon, die eben dann auch verflogen war, wenn mal die ersten zwei drei Folien durch waren. Ich habe deshalb auf die ersten zwei, drei Folien auch immer nur leichtes Blabla und noch keine harten und erklärbedürftigen oder sprachlich anspruchsvollen Informationen geschrieben, weil ich das wusste, dass ich einen Moment brauche, bis das Vortragshirn auf Betriebstemperatur ist.

Die Frage ist: Was passiert da im Hirn? Warum hat man das nicht, wenn man den Vortrag probeweise allein oder vor Freunden hält? Ich kann es nicht mehr so genau sagen, weil ich den Effekt kaum noch habe, irgendwann hat man soviel Routine, dass der Effekt nicht mehr oder kaum noch auftritt. Aber anscheinend tritt der Effekt auch nicht vor der Kamera bei Videokonferenzen auf.

Hat es also damit zu tun, dass man vor Menschen auftritt, irgendwelche Rudelmechanismen greifen?