Ansichten eines Informatikers

Kreide für die Medien gefressen

Hadmut
18.8.2021 3:29

Wisst Ihr, was mir seit ein, zwei Tagen sehr deutlich auffällt?

Wie gut vorbereitet und kontrolliert die Taliban mit den Medien umgehen.

Eigentlich hätte man nach den Erfahrungen von vor 20 Jahren und einiger der letzten Jahre damit rechnen müssen, dass die einfallen wie die Barbaren und massenweise alles umbringen und in die Luft sprengen, alles vernichten, was mit Medien zu tun hat oder überhaupt irgendwie Strom verbraucht.

Tun sie aber nicht. Im Moment jedenfalls.

Ich habe bisher keine Berichte von Gräueltaten oder Zerstörungen gesehen.

Im Gegenteil: Die haben Twitter-Accounts, über die sie offiziell Verlautbarungen mitteilen. Sie zerstören die Radio- und Fernsehsender nicht, sondern finden sich da ein um Sendungen und Podcasts zu machen. Sie stellen Polizisten auf, die den Verkehr regeln und für Ordnung sorgen sollen. Sie teilen mit, auch auf Twitter, wem sie alles zusichern, dass ihm nichts passiere und keine Gefahr drohe. Sie behaupten, es sei gewährleistet, dass niemand in die Privathäuser eindringe. Sie sagen, die Leute sollen für die nächsten zwei, drei Tage mal ab 21 Uhr zuhause bleiben, bis Ruhe einkehrt. Sie behaupten, sie wollten keine Rache nehmen. Es gab sogar die Aussage, dass Frauen nichts zu befürchten hätten und sie ihren Berufen weiter nachgehen, die Mädchen zur Schule gehen könnten – im Rahmen des Islam. (Was immer das dann heißen mag.) Sie sind beim Einzug in den Präsidentenpalast nicht eingefallen wie plündernde Hunnen, sondern haben sich (zumindest was die eine Kamera zeigen konnte, als nur einen winzigen zeitlichen und räumlichen Ausschnitt) ruhig und kontrolliert dahingesetzt, augenscheinlich ohne irgendwas kaputt zu machen oder sich danebenzubenehmen.

Ob das stimmt, wieviel das wert ist, wie lange das hält, ob das über mehr als die erste internationale Aufmerksamkeit hinaus reicht, mag dahingestellt bleiben. Zumal es auch schon Kommentare gab, wonach das nur die Meinung eines Teils der Taliban sei, und das schon die Gefahr berge, dass die sich zerstreiten und auseinanderbrechen.

Man sollte darauf nicht viel geben, die sind erst mal in der Beweislast.

Aber: Ich finde den Vorgang, dass sie überhaupt in dieser Weise – ob nun ernst gemeint oder gelogen, haltbar oder nicht – an die Öffentlichkeit gehen und sich ganz offenbar, zumindest um vorrübergehend den Anschein zu wahren, ziemlich zurückhalten im Vergleich zu dem, was die da veranstalten könnten, bemerkenswert. Schon den Umstand, dass die da überhaupt einen offiziellen Sprecher und einen weiteren für englischsprachige Medien auf Twitter bestimmen, und das zumindest mal für ein paar Tage funktioniert und anläuft, halte ich für einen überaus beachtlichen Vorgang.

Ich hatte mir die Einnahme von Afghanistan durch die Taliban eigentlich anders vorgestellt. Schlimmer.

Leute, die eigentlich jede Medientechnik, schon Musik, verteufeln, produzieren nun Videos und Tweets, geben Pressererklärungen heraus, teilen Beruhigungs- und Beschwichtigungsnachrichten mit.

Diese Leute haben sich vorbereitet und sie haben sich angesehen, wie Medien funktionieren, welche Macht Videos im Internet haben, die jeder mit dem Handy aufnehmen kann. Die achten gerade sehr deutlich darauf, dass da nichts anbrennt. Zumindest medial. Real könnte das dann anders aussehen.

Dabei fällt mir auch auf, dass die sich beeilt haben, zuzusicheren, dass Diplomanten, selbst NGOs anderer Staaten nichts passiert, dass die unbesorgt abziehen (oder vielleicht sogar bleiben) könnten. Irgendwo hieß es, sie wollen alsbald diplomatische Beziehungen und sowas aufnehmen.

Die haben Kreide gefressen.

Nicht nur das.

Die geben sich allerhand Mühe, zumindest mal den Anschein zu erwecken, wenigstens für den Augenblick, als könnten, wollten und würden sie einen regulären Staat betreiben, der „gar nicht so schlimm“ sei. Fast so, als ob es bald schon Tourismus geben werde. (Wobei mich Afghanistan in einem friedlichen, ungefährlichen Zustand durchaus mal interessieren würde.)

Man könnte meinen, die wollten nach Syrien, Irak, Libyen und sowas mal unter Beweis stellen, dass im Islam auch ein stabiler Staat und nicht nur Chaos, Mord und Totschlag möglich sei, und dass Islam vielleicht doch nicht nur Flucht in den gottlosen Westen bedeuten müsse.

Mir geht gerade so durch den Kopf, als ob dort eine Zeitenwende versucht wird.

Nicht, dass ich ihr große Chancen einräumen würde, oder glauben, dass da wirklich viele Leute dahinterstecken.

Aber zumindest die vorgebliche Absicht glaube ich da erkennen zu können, sofern das nach zwei Tagen Chaos überhaupt erkennbar sein kann.

Mir fällt aber auf, dass es anders läuft, als ich (und vermutlich viele andere) vermutet und erwartet hätten. Zumindest was den äußeren Anschein angeht, geben sich da einige Leute offenbar Mühe und treiben Aufwand.