Ansichten eines Informatikers

Das komische Zielfoto

Hadmut
31.7.2021 15:56

Ein fotografisches Randdetail zu Sportveranstaltungen wie den olympischen Spielen.

Wer mal bei den Fernsehübertragungen und Kommentaren oder auch in der Presse die Berichte über Sportarten verfolgt hat, bei denen es darum geht, wer in welcher Reihenfolge und wann im Abstand von Zehntel oder Hunderstel Sekunden über die Ziellinie läuft oder fährt.

Dabei gibt es manchmal so seltsam verbogen und Dali-esk aussehende Zielfotos, in denen man auch noch Linien einzeichnet, wie beispielsweise dieses, dieses oder dieses.

Was, wenn man sie nicht verstanden hat, komisch aussieht, weil manchmal die Oberschenkel ganz dick, die Beine aber dünn, kurz und verbogen aussehen, oder jemand plötzlich auf doppelte Länge gezogen ist.

Außerdem fragt man sich, was das soll, mit dem Zieleinlauf des vordersten die Reihenfolge der Nachkommenden festzulegen, als ob die sich kurz vor dem Ziel nicht noch überholen könnten und es nur darauf ankäme, wo man ist, wenn der erste durchs Ziel läuft.

Manchem wird auch auffallen, dass der Boden komplett weiß ist, obwohl er doch im Original eigentlich rot ist. Und da auch eine Bandenwerbung ist, auf der dann Omega oder Junghans oder irgendeine andere Werbung steht, obwohl die dort eigentlich gar nicht steht, man dafür aber das, was wirklich im Hintergrund ist, nicht selten beispielsweise ein Fußballrasen, oder auch einfach Fernsehkameras: Alle weg.

Warum?

Wer es weiß, braucht hier nicht weiterzulesen.

Wen es nicht interessiert, den auch nicht.

Der Witz an der Sache ist, dass die Kamera, die das Zielfoto macht, nach einem anderen Prinzip funktioniert und das Foto anders gemacht wird.

Normales Foto:
Normalerweise bildet ein Objektiv die dreidimensionale Realität über den Blickwinkel in eine zweidimensionale Ebene ab, die dann durch die Optik auf den Film projiziert wird. Dazwischen ist ein Verschluss, der für kurze Zeit öffnet, und damit das ganze Bild zu einem bestimmten Zeitpunkt aufnimmt.

Würde man sich also direkt an die Ziellinie stellen und mit einer normalen Kamera genau entlang der Ziellinie fotografieren, wenn der erste Läufer einläuft (und beispielsweise das Foto durch eine Lichtschranke auslöst), wäre das Foto zeitinvariant, weil es nur einen Zeitpunkt (genauer: kurzen Zeitraum der Belichtungszeit undifferenziert) zeigt, aber den Ort entlang der Bahn auf die x-Achse des Bildes abbildet.

Man könnte also sehen, wo jeder in dem Zeitpunkt war, als das Foto ausgelöst wurde. Was den Vorteil hat, dass auch jeder natürlich aussieht, weil das unserer eigenen Sichtweise entspricht. Aber sportlich den Kampfrichtern nichts nutzt, weil das ja nicht interessiert, wo die anderen sind, wenn der erste die Lichtschranke unterbricht, sondern ja auch die anderen Reihenfolgen geklärt werden müssen und eventuell zweie sehr knapp aneinander sind.

Zielfoto:
Da macht man es genau andersherum. Die Kamera nimmt nicht einen Bereich auf, sondern hat nur einen Schlitz, der nur einen ganz dünnen Schlitzblick über die Ziellinie zulässt. Dafür bleibt der dann für längere Zeit offen, und der Film wird daran vorbeigezogen. Es ist also der Ort invariant, dafür wird die Zeit in die x-Achse abgebildet. Man sieht also nicht, wer zum Zeitpunkt der Auslösung wo war, sondern umgekehrt, wer wann am Ort der Aufnahme, nämlich der Ziellinie war. Deshalb sieht das so verzerrt aus, weil man den Unterschenkel schneller bewegt als den Oberschenkel. Wenn man beispielsweise in der Nähe der Ziellinie auftritt, dann bleibt der Oberschenkel länger ruhig als der Fuß, steht also einen längeren Zeitraum über der Ziellinie, und sieht deshalb breiter aus: Nicht (nur), weil er breiter ist, sondern vor allem, weil er länger über der Ziellinie war. Deshalb sieht jemand ganz lang aus, der auf der Ziellinie hingefallen ist und da liegen blieb, weil der sehr lange da war oder sich im Fall langsamer bewegt hat. Und deshalb sehen auch die beiden Fahrräder unterschiedlich lang aus. Die sind nicht unterschiedlich lang, sondern waren unterschiedlich schnell, weshalb der eine länger über der Ziellinie war als der andere. Der Slovene hat offenbar einen Schlussspurt eingelegt, hat ihm aber knapp nicht mehr gereicht, denn wie die roten Linien zeigen, war der andere, offenbar schon etwas entspannt und deshalb langsamer, trotzdem etwas früher im Ziel. Deshalb kann man diese Linien einzeichen, weil sie nicht den Ort angeben, wo einer war, sondern den Zeitpunkt, wann er auf der Ziellinie war. Es gab früher Panoramakameras, die so funktioniert, nämlich die Kamera gedreht wird und währenddessen ein Schlitz am Film vorbeifährt.

Der Brüller zum verstehen ist, wie die Zeitskalen am unteren Rand und die Werbung hinter den Läufern zustandekommt, obwohl man sie dort doch gar nicht sieht: Würde man auch nicht, denn normale Werbung ist ja räumlich ausgedeht, und das kann die Kamera nicht aufnehmen. Sondern es stehen vorne bzw. in der Kamera und vor allem am linken Ende der Ziellinie rotierende Walzen oder Stangen, auf die die Zeitskala und die Werbung rundum aufgedruckt sind. Wenn man bei Videoaufnahmen von älteren Wettläufen genau hinschaut, dann sieht man noch, dass da so ein kleiner Pfosten steht, in dem eine Stange oder dünne Walze rotiert. Da sind dann diese Schriftzüge wie Junghans oder Omega aufgedruckt, und weil die exakt links neben der Ziellinie stehen und die Kamera von rechts auf die Ziellinie schaut, sieht sie im Hintergrund diese Walze. Und weil die sich dreht, und die Zeit in die X-Achse abgebildet wird, sieht man dann den Schriftzug, der sich mit jeder Umdrehung wiederholt. Und deshalb sieht der Boden weiß aus, obwohl er eigentlich rot ist: Die Ziellinie ist weiß.

Heute macht man das natürlich digital. Die Kamera ist digital, und statt der rotierenden Walze für den Schriftzug steht meines Wissens eine LED-Zeile da.

Digital kann man sich das aber auch leichter vorstellen, wenn man es noch nicht verstanden hat: Stellt Euch vor, man nimmt mit einer ganz normalen Videokamera, oder auch einem Handy, aber mit sehr hoher Bildrate, von rechts, Blick entlang der Ziellinie den Zieleinlauf auf, und zwar so, dass die Ziellinie genau in der Mitte ist. Dann weiß man ja von jedem Bild des Videos, wann es passiert ist. Weil man die Kamera mit der Zeitmessung koppelt oder einfach die Zeitanzeige mit aufnimmt. Wenn man nun von jedem Einzelbild dieses Zeitlupenvideos nur eine vertikale Pixelspalte herausnimmt, und zwar genau die entlang der Ziellinie, und die dann nebeneinanderpappt, so dass die der früheren Bilder rechts und die späteren links sind, was man mit etwas Software und Skripten leicht selbst machen kann, und dann unten noch eine Zeitskala anbringt, dann hat man genau so ein Zielfoto. Und wenn man mit mindestens 100 fps, also frames per second, aufnimmt, dann hat man den Zieleinlauf auch in Hunderstel Sekunden.