Ansichten eines Informatikers

Ferndiagnosen und Ohrenhaare

Hadmut
14.10.2025 13:34

Ich habe eine neue Stufe des Bewusstseins erreicht.

Als bei Ausbruch des Corona-Lockdowns meine Hausärztin ihre Praxis von innen zunagelte und versuchte, Patienten möglichst nur noch durch den Türschlitz zu bedienen, habe ich schon eine erste Ferndiagnose eingeholt und ihr von einer Verletzung am Fuß ein Foto per Mail geschickt, um mir dann durch besagten Türschlitz das passende Rezept abzuholen, ohne die Praxis zu betreten.

Ich hatte doch gerade Fotos meiner Trommelfelle gepostet. Neben einer ganzen Reihe unerwarteter Leserreaktionen – Danisch endlich auf „ears only“ – kam von einer Leserin das:

Innenansichten … des Ohres, Trommelfell – URGENT!

Lieber Hadmut,

damit solltest du zum HNO gehen.
Wenn Kinder einen solchen Befund haben, operieren die HNO-Ärzte. Nennt sich >Paracentese<. Tut nicht weh. Damit Blut und Eiter in diesen Mengen abfließen können, wird ein "Röhrchen" gelegt und einige Wochen später wieder entfernt. In der Zwischenzeit darauf achten, dass kein Wasser ins Ohr läuft: nicht beim Duschen, nicht schwimmen gehen oer gar tauchen. Dadurch dürfte sich auch dein Tinnitus weitgehend erledigen. Beste Grüße die [...] (fast-beinahe Ex-Gattin eines "Hasen-Ohren-Arztes", besser: Kopf- und Hals-Chirurgen).

Was macht man da, vor allem, wenn man gerade im Ausland ist?

Ich habe mal bei meiner Ohrenärztin angefragt, ob auf den Fotos irgendetwas zu sehen wäre, was nicht in Ordnung sei. Postwenden die Antwort:

Sehr geehrter Herr Danisch,

die Trommelfelle sind gesund und schön an zu sehen. Auf dem einen ist ein Haar zu sehen, aber das stört in der Regel nicht.

Beste Grüße

Ist das nicht wunderbar?

(Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich es überhaupt noch einmal schaffe, dass eine Frau etwas an mir schön findet.)

Ich finde das schräg, dass man mit so einem Posting solche Reaktionen hervorrufen kann, und toll, dass man sie so lösen kann.

Nun geht mir aber eine Frage durch den Kopf, gerade weil es doch gerade diese Diskussion gibt, ob man gleich zum Facharzt kann oder erst zum Hausarzt für die Eingangsdiagnose und Überweisung. Wäre so etwas nicht eine Prachtanwendung für ein KI-System?

Gerade solche Fotos von bestimmten Körperteilen, wie auch damals bei der Verletzung am Fuß, während doch eigentlich prädestiniert für eine Art Eingangsvorprüfung, die sogenannte „Triage“.

Eigentlich könnte man eine Art Diagnosekit erstellt, Handy-App, Lampe, Thermometer, Ohren- (oder generell Körperöffnungs-)Kamera, um dann mit einem KI-System Kontakt aufzunehmen und zu sagen, ich habe dieses und jenes Problem, und das dann sagte „mache dies, mache das, und lade es hoch“.

Ich kann mich erinnern, dass ich vor ungefähr 10 Jahren mal einen Zwischenfall hatte. Ich habe es selbst gar nicht gemerkt, Kollegen sprachen mich darauf an: „Was ist mit Deinem Auge? Das sieht ja schlimm aus!“ Wieso, was soll den mit meinem Auge sein? „Guck mal in den Spiegel!“ Ein Auge blutrot, Äderchen geplatzt. Subjektiv nichts davon gemerkt.

Was tun?

Mein Augenarzt hatte gerade nicht geöffnet, war die Woche in Urlaub oder sowas. Also hatte ich den Krankenkassenbereitschaftsdienst angerufen, und gefragt, was man da macht. Die am Telefon: „GANZ SCHLIMM! BEGEBEN SIE SICH SOFORT IN DIE NÄCHSTE NOTAUFNAHME EINES KRANKENHAUSES! DRINGEND!“

Na, gut. Krankenhaus rausgesucht, das Augenheilkunde hat, und hingefahren.

Dort dann so vier oder fünf Stunden im Wartezimmer gewartet und sämtliche Unfälle dieses Teils von Berlin an mir vorbeiziehen gesehen. Schließlich drangekommen.

Arzt guckte sich das an. „Da ist ein Äderchen geplatzt.“

Und was macht man da?

„Nichts. Geht von selbst wieder weg. Kommt halt vor.“

Nur wenn das wiederholt passiere, sollte man aufpassen, das könne ein Zeichen für zu hohen Blutdruck sein.

Und warum machen die dann am Telefon solche Panik?

Da säßen halt oft Leute, die keine Ahnung haben, und keinen Fehler machen wollen, nicht haften und nichts verursachen wollen, und deshalb immer erst mal Notfall brüllen, wenn sie keinen Arzttermin parat hätten, damit die Krankenkassen nicht haftet.

Auch das wäre eigentlich so ein typischer Fall gewesen. KI: „Guck mal in die Handy-Kamera“ … „Das ist …“, ich habe Dir einen Termin bei Dr. … gemacht, fahre zur Kontrolle in die …-Straße.

Ich denke, gerade in diesem Bereich der Triage ist einiges zu holen. Natürlich sollte das dann auch immer so sein, dass die KI auch lernt, in unklaren, Grenz- oder Notfällen dann sofort in eine Videokonferenz zu einem echten Arzt durchzuschalten. Aber auch da sähe ich Potential, echte Ärzte per Videokonferenz vorzukonsultieren, die dann sagen, ob das dringend ist oder nicht, oder in einfach gelagerten Fällen (wie damals bei meinem Fuß, bei dem sich eine kleine Verletzung etwas entzündet hatte) direkt ein Rezept ausstellen können.

Das nämlich würde auch Ärzten Home-Office am PC ermöglichen, beispielweise wenn sie selbst kleine oder kranke Kinder haben und einfach zuhause bleiben wollen oder müssen, wie andere Leute auch. Quasi eine Arzt medizinisches Call-Center. Natürlich mit weißem Kittel und elektronischem Arztpraxis-Hintergrund und nicht aus dem Wohnzimmer oder der Küche.

Ich hatte ja mal vor rund 20 Jahren für einen Krankenhauskonzern eine VPN-Verbindung zu einer Außenklinik eingerichtet, wo sie einen Tomographen und medizinische Assistenten, aber keinen Radiologen außerhalb der Hauptarbeitszeiten (oder gar keine, weiß nicht mehr genau) mehr hatten, damit die Radiologen im Hauptkrankenhaus aus der Entfernung auf die Bilder zugreifen und den Assistenten telefonisch Anweisungen geben können, damit die da auch ohne Arzt Unfallopfer, die sofort untersucht werden müssen, tomographisch untersuchen können.

Irgendwo in den USA gibt es einen Kliniknotfalltelefonservice, damit Flugzeugbesatzungen bei Notfällen in der Luft dort anrufen und Hilfe bekommen können, weil die da im Krankenhaus dann auch ganz genau wissen, welche Hilfsmittel an Bord sind und welche nicht, und dann auch bewerten können, ob eine Notlandung erforderlich ist oder nicht.

Es wird nicht mehr lange dauern, und Flugzeuge (und Armeesanitäter) werden einen KI-Doktor dabei haben, der sich in Notfällen die Sache „ansieht“ und Ratschläge geben kann.

Kennt Ihr Star Trek? Raumschiff Voyager? Die ans andere Ende des Universums verschlagen werden, dort gleich ihr Schiffsarzt mit umkommt, und die deshalb für den Rest der Serie mit dem „HoloDoc“, dem vom Computer simulierten medizinischen Notfallassistenten auskommen müssen, eine großartige Rolle?

So weit sind wir davon gar nicht mehr entfernt.

Es heißt doch immer, wir wollten in Deutschland in Sachen KI an die Spitze. Das wäre doch ein ideales Einsatzfeld. Warum sind wir nicht längst dabei, KI-Diagnosesysteme zu trainieren, bevor uns die Amerikaner das wieder wegnehmen?

Beispiel Trommelfell: Eigentlich müssten wir doch – Datenschutz hin oder her – bei allen Ohrenärzten ständig Fotos von Trommelfellen machen und jeweils dranschreiben, ob gesund oder ob irgendwas nicht in Ordnung. Wichtig dabei: Nicht nur die Kranken, auch die Gesunden müssen trainiert werden.

Und dann hämmert man diese riesige Zahl von Ohrenfotos samt Diagnosen in die KI. Gerade bei solchen vorrangig optischen Diagnosen mit dem im Prinzip immer gleichen Blickwinkel müsste das doch ideal funktionieren.

Und dasselbe dann im Prinzip mit HNO, selber Arzt, aber auch Hals und Nasen. Und Gynäkologen oder Prokotologen, die ja auch alle einen meist ziemlich gleichartigen Blickwinkel pflegen, was zu gleichartigen Fotos führt.

Und dabei lernt man, wie man medizinische KI-Systeme aufbauen muss.

Aber ich mache jede Wette, dass uns das die Asiaten und Amerikaner wieder fertig vorlegen, noch bevor wir in Deutschland auch nur angefangen haben, uns über die Frauenquote bei KI-Doktoren zu streiten.