Ansichten eines Informatikers

Open-Source-Projekte als Sozialprothese

Hadmut
5.10.2025 13:34

Ein unschöner Effekt, den ich immer öfter beobachte.

Eigentlich ist der Effekt an sich auch gar nicht neu.

Man konnte den schon ab Ende der 80er Jahre beobachten, als die „Mailboxen“ (eine der damaligen Bezeichnungen für Online-Foren) und das Usenet-Netz aufkamen, also noch bevor das Internet in den peripheren Nutzerbereich vordrang und man noch kommunizierte, indem man sich in einzelne Foren, BBS (Bulletin Board System), per Modem einwählte, oder Mails und Usenet-Posts per uucp austauschte. Im Prinzip die Steinzeit der elektronischen Social Media.

Wobei es genau diesen Effekt, den ich beschreibe, auch vorher schon gab, als „Social Media“ noch die Dorfkneipe meinte.

Ich meine den Effekt, dass ein Forum schnell zum vermeintlichen Privatbesitz, zum Sozialplatz und Rangordnungssystem seiner angestammten Einwohner wird, und da so eine Art Rudelmechanik entsteht, wer da die Macker sind, wer die Vorrechte hat, wer den Ton bestimmt. Als ob man in irgendeinem Straßenghetto in das Revier einer Gang kommt. Und wo Fremde und Neue sofort attackiert werden, und man von jedem erwartet, die gesamte Gesprächshistorie zu kennen, auch wenn er neu hinzukommt und die gar nicht kennen oder nachlesen kann. Und wehe jedem, der vom als gesetzt geltenden Wissen oder dem als gesetzt geltenden Meinungskanon abweicht oder auch nur fragt. Nicht die Sache zählt, sondern die Rudelkonformität, egal wie willkürlich. Das machte damals das Usenet an vielen Stellen richtig wüst und dreckig, und aus so etwas eskalierten ja viele Flamewars und Sperrkriege bis hin zu den legendären Aquaria-Kriegen.

Das ist nicht so problematisch, wenn es um allgemeine Laberforen zu irgendwelchen Themen geht, weil die eh nur Zeitverschwendung sind und man da eben einfach nicht hingeht, wenn es einem da nicht gefällt.

Das ist aber dann problematisch, wenn die Foren technisch sachbezogen sind und man sie für irgendwelche Fragen zum Produkt besuchen muss, weil es keine Alternative gibt.

Und das war auch ein wesentlicher Grund, warum ich mich zwar in meiner Studentenzeit mal für einige Zeit ziemlich im Usenet herumgetrieben habe, und das auch musste, weil es damals noch keine Webserver, kein Git Repository und so weiter gab, viele auch noch keine Internet-E-Mail hatten, und das Usenet damals die (neben ganz wenigen FTP-Servern) einzige Quelle war, um an Software zu kommen, die dann per shar-Archiv oder ähnliches verteilt auf 37 Postings (und wehe, Posting 14 fehlt), verteilt wurde, und die man dann zusammensetzen musste. Das war damals in vielen Fällen die einzige Art, Informationen zu publizieren, oder auch mit den Autoren zu kommunizieren, etwa für Fragen, Bug Reports usw. Das Usenet war zwar ein großer Haufen Mist – aber vorbei kam man daran damals eben auch nicht, weil uucp eben die vorherrschende Kommunikationsform war, bevor sich das Internet und damit die ständigen Online-Verbindungen ausbreiteten, und die zwei Standard-Anwendungen für uucp eben E-Mails (damals noch praktisch unbrauchbar mit Hop-Liste als Adressangabe, man musste also als Empfängeradresse genau den Pfad kennen und nach dem Schema fakultaet1!unia!unib!universityofsomewhere!facultyofsomething!johndoe angeben, und wissen/hoffen, dass die Systeme miteinander per uucp kommunizieren, und mit etwas Glück war die E-Mail schon nach 3 Tagen beim Empfänger, weil sich die Systeme vielleicht so einmal am Tag, an Universitäten auch etwas öfter, per Modem anriefen und per uucp austauschten, was sie hatten. Und um das zu erleichtern, hatte man das Usenet auf uucp aufgebaut, für das man kein Routing mehr angeben musste, weil sich alle Systeme miteinander abgleichen, aber dann eben auch jeder mitlesen kann, und wo sich deshalb Usenet-Gruppen statt individuellen Mailboxen bildeten, die ansonsten aber technisch sehr ähnlich waren (und sich eng am Mailformat orientierten).

Mit dem Aufkommen des Internet hat sich das erst einmal verflüchtigt und diversifiziert, weil man durch Webserver, Internet-E-Mail, nicht mehr auf diese Foren angewiesen war und man leben und arbeiten konnte, ohne sich mit jedem x-beliebigen Deppen und Soziopathen auseinandersetzen zu müssen.

Mittlerweile beobachte ich aber (seit einigen Jahren), dass diese Sozialsümpfe wieder zurückkehren.

Natürlich hat man mit Twitter und Facebook und all so einem Kram schon enorme Sozialkriegsschauplätze geschaffen, aber man muss da ja nicht teilnehmen.

Mir fällt aber schon seit einiger Zeit auf, dass immer mehr Open-Source-Projekte zu solchen Sozialsümpfen werden. Früher ging es da zwar auch schon ruppig zu, aber wenigstens ruppig und themenbezogen, heute nur noch ruppig.

Viele Open-Source-Projekte wurden von ihren ursprünglichen Autoren und Maintainern, die sie mal geschrieben, gepflegt und verstanden hatten, verlassen. Manchmal freiwillig, weil andere Interessen, Altersgründe, „fertig entwickelt“, oder auch einfach mal zu alt oder verstorben, oder eben von der Woke-Gang per Code of Conduct aus dem eigenen Projekt verjagt oder rausgeekelt.

Und dann besetzen Leute diese Open-Source-Projekte, die vom Projekt selbst technisch keine Ahnung mehr haben, das auch nicht mehr warten können, Fehlerberichte nicht mehr verstehen, und oft auch auf Fehlerberichte nicht mehr anders reagieren also sie entweder ganz zu ignorieren oder von dem, der sie einreichte, auch zu erwarten, dass der doch den Fehler behebt und die Änderung einreicht, als könnte der sich mal eben in so ein Projekt einarbeiten.

Aber: Code of Conduct, Gender und so etwas ist da ganz wichtig. Nirgends darf mehr „Master“ oder „Slave“ vorkommen. Und Bugs darf man nicht mehr so nennen, weil das ja jemanden diskriminieren könnte, irgendein Softwareautor könnte sich ja ungut fühlen, wenn jemand einen Fehler in seinem Programm findet.

Mir ist nicht ganz klar, ob das eine linke Strategie ist, die Diskurshoheit zu gewinnen und Wokeness in die notorisch unkorrekte Softwareszene zu drücken, oder ob die gerade verzweifelt ihre Sozialprothesen suchen – aber es hat auf jeden Fall beide Wirkungen.

Immer öfter habe ich den Eindruck, dass immer mehr Projekte eigentlich überhaupt nicht mehr entwickelt oder gepflegt werden, und dass sich irgendwelche Woke-Spinner der Projektleiche bemächtigt haben, um da den Hauswart zu spielen und wenigstens eine lokale Machtposition zu haben, irgendeinen Vorwand zu haben, damit sich Leute in deren Foren begeben, um dann da erzogen zu werden.

Ich hatte schon so oft von der fetten Belgierin erzählt, die eine Outdoor-Reise durch das australische Outback vermieste, weil sie sich überhaupt nicht für Australien interessierte, und das gebucht hatte, weil dabei eine kleine Gruppe von Leuten für einige Wochen auf Gedeih und Verderb, ohne Möglichkeit zur Flucht – bis zu 700km von Ansätzen der Zivilisation wie einem Supermarkt entfernt – einander ausgeliefert ist, und sie da ihren Sozial- und Intriganzkram durchziehen und alle behandeln konnte wie ein Puppenhaus. Das ist mir damals so deutlich aufgefallen, dass ich seither auf so etwas achte.

Und genau diesen Effekt beobachte ich immer wieder und auch zunehmend bei Open-Source-Projekten:

Leute, die sich für das Projekt eigentlich gar nicht interessieren und auch fachlich keine Ahnung haben, werden da plötzlich Maintainer, weil sie da auf einmal – wenn auch ganz klein – „jemand“ sind. Auf einmal haben sie die Kontrolle über irgendein Miniforum, irgendeine Mailingliste, Bugreports und können da „Macht“ ausüben, indem sie Bug Reports schließen, Leute anschnauzen, sperren, melden. Wie so ein Blockwart eben.

Und genau denselben Effekt, nur viel größer, beobachte ich bei den ganzen Twitter-Alternativen, seit die Leute von Twitter weg sind, weil sie dort seit der Übernahme durch Musk ihr Sozialding nicht mehr so leicht ausüben können.

Nun sind die dann bei bluesky, Mastodon und was es noch alles gibt – und da läuft es dann ganz genauso. Die betrachten das als ihr Eigentum, über das sie verfügen und verwalten können – obwohl sie ja auch nichts getan haben, als einen kostenlosen Account anzumelden – und dann geht es los, dann sind sie Chef.

Erinnert mich in gewisser Weise auch an Professoren. Bei denen ist es ja auch ganz wichtig, dass sie „Direktor des …-instituts“ sind, auch wenn es das tatsächlich gar nicht gibt.

Was steckt dahinter?

Ich habe die Vermutung, dass man versucht, wenn man schon in der realen Welt nichts ist, trotzdem König zu sein, indem man sein „Königreich“ eben klein genug wählt. Überspitzt gesagt: Wenn ich das Königreich so klein mache, dass nur noch ich darin lebe, bin ich unangefochtener Herrscher und mit 100% Zustimmung gewählt.

Wie Lummerland, das Königreich, in dem nur der König, Lukas der Lokomotivführer, Frau Waas und Herr Ärmel leben fertig. Aber König ist er.

Und ich habe den Eindruck, dass immer mehr verlassene Open-Source-Projekte und ähnliche Gebilde, bei denen man zwangsweise Forenteilnehmer werden muss, wenn man Fragen stellt, Bugs reporten will, Verbesserungen vorschlagen, und die von ihren urprünglichen Maintainern verlassen wurden oder die man verjagt hat, von solchen Sozialkrüppeln aufgegriffen, gekapert und als Vorwand für ihr Minikönigreich verwendet werden. Viele brauchen das dann auch, weil sie gar keine anderen Sozialkontakte mehr haben.

Und das ist sehr, sehr übel.

Von den Umgangsformen abgesehen nämlich führt das dazu, dass die Projekte nicht mehr gewartet und entwickelt werden.

Sie sind aber auch nicht offiziell für tot erklärt, so dass sich andere bemüßigt fühlten, neue zu entwickeln.

Und, am schlimmsten von allen, diese neuen Besitzer, eigentlich mehr Hausbesetzer, geben diese Projekte dann auch nicht heraus, wenn andere sie weiterentwickeln wollen.

Eine ganz üble Sache. Und verbunden mit dem feministischen Zeitgeist, alles nur noch als Sozialprojekt zu betrachten.