Nein, kein Mord auf Zypern
Weil den Witz nicht alle verstanden haben, hier die Erklärung.
Ich hatte gestern abend über drei Messereien geschrieben, zwei in Deutschland, eine auf Zypern. Ich zitiere mich nochmal selbst:
Am schlimmsten war es auf Zypern: Schrecklicher Mord im ansonsten so friedlichen Paphos. Auf der Vergnügungsmeile, der Strandpromenade, kam es am lauen Spätsommerabend vor den Augen von Tausenden Schaulustigen – Einheimische und Touristen – und während noch die Live-Musik spielte, direkt vor der beleuchteten historischen Burg zu einem Eifersuchtsdrama mit einer Toten.
Wie mir Augenzeugen gestenreich berichteten (ich war in der Nähe, aber nicht dabei, hatte aus der Entfernung nur die Live-Musik und Geschrei gehört), sollen sich mehrere Männer lautstark und über mehr als zwei Stunden lang, sogar mit Unterbrechungen, um eine Frau gestritten haben. Ein südländisch aussehender Soldat in Uniform sei aggressiv geworden, weil ein spanisches Großmaul, so ein gegelter Schönling, der da so lächerlich rumstolzierte als wäre er Stierkämpfer, ihm die Tussi ausgespannt haben, weshalb der Soldat so aggressiv wurde, dass er erst seinen Vorgesetzten vor aller Augen zusammengeschlagen und kurz darauf die Frau erstochen hat. Um ihn herum lauter Touristen und Einheimische, die tatenlos glotzten und Handyfotos aufnahmen, niemand schritt ein. Niemand kam auf die Idee, den Rettungsdienst zu rufen. Zwar gibt es sogar im sonst völlig friedlichen Paphos durchaus vereinzelte Polizeistreifen am Hafen, aber die waren nicht nah genug dran, und ganz ehrlich: Die haben auch nichts gemacht und nur tatenlos zugeguckt, während die da vor aller Augen verblutete. Ersten Meldungen in den Social Media nach war die Tote eine polizeibekannte und wegen Schmuggels vorbestrafte Schlampe aus Tiflis namens Carmen irgendwas.
Und morgen noch einmal. Selber Ort. Selbe Zeit. Selbe Musik. Selbe Schlampe.
Leute, das war ein Witz. Den leider nicht alle verstanden haben.
Alles ruhig, alles friedlich, alles nett in Paphos.
In Paphos findet jährlich ein Kulturfestival statt, das Pafos Aphrodite Festival (und ja, man muss sich daran gewöhnen, dass die Städte auf Zypern doppelte Schreibweisen, und die nochmal mit griechischen oder lateinischen Buchstaben, oder sogar doppelte Namen haben, weil sie griechische und englische Namen haben und es auf englisch die phonetische und die buchstabentreue Umschreibung gibt, weshalb Limassol auch Lemesos und Λεμεσός und Nicosia auch Λευκωσία und Lefkosía, sogar türkisch Lefkoşa heißt, und als ich sie mal fragte, warum sie das machen, antworteten sie achselzuckend, dass wir München auf Englich ja auch Munich nennen. Ich möchte hinzufügen, dass Köln englisch Cologne und Nürnberg Nuremberg heißt, Braunschweig Brunswick und Wien Vienna. Und Paphos heißt eben Paphos, Pafos und Πάφος, also regt Euch nicht auf, dass ich Paphos mal mit ph und mal mit f schreibe, weil das Pafos Aphrodite Festival eben so heißt und sie das Pafos mit f, aber Aphrodite mit ph schreiben – das geht alles noch. Glaubt mir, der Wahnsinn fängt erst an, wenn man eine Adresse sucht und die Straße mehrere Namen und Schreibweisen hat und im Navi eine andere steht als man auf dem Zettel hat. Das ist in Thailand aber genauso.)
Viel wichtiger als die Schreibweise ist, dass das Pafos Aphrodite Festival so heißt, weil Zypern die Insel der Aphrodite ist. (Ehemals Göttin im Hauptberuf, lief aber vorwiegend nackt herum, weshalb sie inzwischen ihr Geld auf Only Fans und den Rechten an dem unzähligen Touristentinnef wie Kühlschrankmagneten macht, den man den Touristen hier verkauft, auch mit der nackten Aphrodite. Man trieb mal in einem Laden in Limassol seinen Schabernack mit mir, als ich in einem Aphroditetinnefladen staunend vor einer scheinbaren 2,50 Meter hohen Granitstatue der nackten Aphrodite stand. Sah aus, wie aus Granit gemeißelt. Als die Verkäuferin sie anschubste und diese riesige Statue, die tonnenschwer aussah, umkippte und auf mich fiel. Da glaubt man im ersten Augenblick, man wird von einem tonnenschweren Stein erschlagen, die war aber hohl und ganz leicht, aus Plastik, fühlte und hörte sich an wie ein Benzinkanister, aber so beschichtete, dass sie wie Granit aussah. Unten mit Bolzen, weil man sie am Boden anschrauben muss, damit sie bei Wind nicht wegfliegt. Griechenkitsch, den sich manche Leute in den Vorgarten stellen. Leider habe ich keinen – eigenen – Vorgarten. Also: Zypern zwar eigentlich prüde, aber die nackte Aphrodite ist hier ganz wichtig, historisch und kulturell wie marketingmässig.)
Und im Rahmen dieses Festivals bauen sie für ein Wochenende, nach der Sommerhitze, wenn es hier die so angenehmen lauen Spätsommernächte gibt, vor dem Wahrzeichen von Paphos, nämlich der alten Festung drunten am Hafen eine Bühne und eine Zuschauertribüne auf und führen irgendwas kulturell ganz Wichtiges auf, weil Paphos ja auch mal EU Kulturhauptstadt war und das weiter betonen möchte.
Und deshalb führen das Cyprus Symphony Orchestra zusammen mit dem georgischen Ensemble und Staatsbalett aus Tiflis gestern und heute dort open air Carmen auf.
Ich hätte mir für gestern abend sogar in den Seitenbereichen der Tribüne noch eine Karte beschaffen können, aber: Sorry. Oper ist nichts für mich. Mit der Orchestermusik käme ich noch aus, aber der opentypische Gesang geht mir richtig auf die Nerven, und dieses gekünstelte andeutungsmäßige Getue ist auch nicht mein Ding.
Weil ich mir aber anschauen wollte, wie das so abläuft, war ich gestern abend am Hafen (genau da, wo ich neulich nach Israel geguckt habe), Spaziergang auf der Strandpromenade machen, dazu Eis essen, Sonnenuntergang angucken – und mal schauen, was Carmen so treibt.
Schon auf dem Weg dorthin habe ich gemerkt, dass etwas ungewöhnlich ist, weil die Straße zum Hafen völlig verstopft war, Auto an Auto in halber Schrittgeschwindigkeit. Deshalb habe ich nicht, wie sonst, am Hafen geparkt, wo es einen ausreichend großen und kostenlosen Parkplatz gibt, der schon überfüllt war, sondern am Einkaufszentrum geparkt und bin zu Fuß zum Hafen gegangen. Die Polizei hatte den letzten Teil der Zufahrtsstraße dann auch schon wegen Überfüllung geschlossen.
Wie zu erwarten war der Teil des Hafens um die Festung abgesperrt und nur für Operngäste mit Karte zugänglich, damit man da nicht kostenlos schmarotzen kann, und weil im äußeren Teil auch irgendwelche Pausenbuden und die Backstage der Schauspieler aufgebaut waren. Ich hatte auch keine Kamera dabei, mit der man sicherlich auch Urheber-Ärger bekommen hätte, habe also mal an der Haufenmauer, direkt an der Absperrung, so nah man eben ohne Eintrittskarte kam, ein paar Sekunden aufgenommen (Qualität unterirdisch, Handy aus der Hosentasche gezogen und mal kurz hingehalten), damit man sich das mal vorstellen kann:
Von der zweistöckigen Theaterbühne konnte man nur ein kleines Eckchen der oberen Etage sehen, und wie man im Video hört, standen da auch ganz viele Leute, die laut durcheinander geplappert haben, weshalb ich da auch nicht lange geblieben, sondern nach der Anfangsmusik gegangen und später nochmal kurz geguckt habe.
Jedenfalls hatte ich mich beim Spaziergang an der Promenade mal kurz gesetzt und auf dem Handy nachgelesen: Worum geht es in Carmen überhaupt? Ich wusste das mal, hatte das aber längst wieder vergessen. Ich habe Carmen auch nie am Stück gesehen, immer nur die bekannten Melodien, weil mir dieses Operngehampel, wie gesagt, enorm auf die Nerven geht (Ausnahme: Königin der Nacht). Mir tun diese openmäßigen Frauenstimmen im Ohr weh, und diese Tenorstimmen mit Spannung im Hals hören sich für mich immer so Kermit-mäßig an. Ich gönne es von Herzem jedem, dem es gefällt, und will es auch niemandem madig machen. Aber für mich ist das einfach nichts. Ich kann damit nichts anfangen.
Und ganz ehrlich:
Ich zweifle daran, dass von denen, die in die Oper gehen, viele etwas damit anfangen können und das mögen. Ich glaube, das hat viel mit Rangordnung, Rudelverhalten und Konformität zu tun, Angeberei. Wir, mein Mann und ich, gehen in die Oper!
Soweit ich das also nochmal nachlesen konnte und verstanden habe:
Das bildhübsche, aber kriminelle und charakterlich fragwürdige Zigeunermädchen Carmen wird wegen einer Straftat festgenommen. Ein Soldat soll sie im Knast bewachen. Sie macht ihm aber schöne Augen und flirtet ihn an, verdreht ihm so den Kopf, dass er sie freilässt – und sich dafür mächtig Ärger einhandelt. Sie bandelt wohl kurz mit ihm an, kocht aber schon vor Eifersucht, und greift sogar seinen Vorgesetzten an, der ebenfalls hinter Carmen her ist. Um der Strafverfolgung zu entkommen muss er sich selbst im kriminelle Milieu verstecken, ist ruiniert. Weil ein Soldat aber Pflichten hat und nicht immer für sie da ist, hat sich Carmen längst von ihm abgwandt und pusselt stattdessen mit einem gelackten berühmten Matador herum (deshalb die Stierkampfmusik). Während eines Stierkampfes passt der Soldat Carmen vor der Arena ab und bekniet sie, doch wieder zu ihm zu kommen, was sie aber brüsk ablehnt. Als sie ihm sogar den Ring, den er ihr geschenkt hat, vor die Füße wirft, rastet er aus und ersticht sie. Die Oper endet mit ihrem Tod.
Was dann übrigens auch erklärt, warum sich Katarina Witts Carmen gegen Ende zu dramatischer Musik die Hand an die Hüfte hält (Messerstich) und dramatisch stirbt, während ihre Konkurrentin Debi Thomas zwar auch Carmen zeigt, die aber am Ende lebt, die Story also nicht erfasst hatte. Goldmedaille für Witt.
Wie ich das so saß und noch ein paar Nachrichten auf dem Handy las, dachte ich: „So eine Scheiße!“. Überall Messerstechereien. Aber während die in Deutschland ernst sind, ist auf Zypern alles völlig ruhig und friedlich, und der Messermord nur Bühnenthema.
Und wie ich danach so zurück zum Auto ging und nach Hause fuhr, ging mir die Frage durch den Kopf, wie man das im Blog darstellen könnte, dass in Deutschland Messereien stattfinden, während auf Zypern Open-Air-Oper in lauer Sommernacht stattfindet und alles völlig friedlich und ungefährlich ist.
Also dachte ich mir:
Mord in Zypern vor tausenden Schaulustigen (=Opernpublikum) bei Livemusik (=Orchester) und alle glotzen und keiner schreitet ein. Nicht mal die Polizei macht was – es waren da zwei Streifenpolizisten zu Fuß unterwegs, für die es aber auch nichts zu tun gab. Nicht mal die sind eingeschritten, als Carmen auf der Bühne „erstochen“ wurde.
Ein Leser hat zwar gemerkt, dass ich von einer Carmen-Inszenierung rede, dachte aber, ich beschreibe so eine neulinke moderne Inszenierung mit Publikum und untätigen Polizisten auf der Bühne.
Nein. So weit ich das überhaupt sehen konnte, hatten die da zwar einen modernen, weil einfachen Bühnenaufbau, aber klassische Kostüme, und sowohl Georgien, als auch Zypern sind in solchen Angelegenheiten konservativ. Ich habe mir da einfach die Freiheit genommen, die Bühennstory und die Geschehnnisse außenherum (Polizisten auf der Promenade) zu vermischen.
Eigentlich …
Eigentlich wollte ich damit den Unterschied zwischen Deutschland und Zypern herausstellen.
In Deutschland sind die Messereien schon so normal geworden, dass wir ein oder zwei Messervorfälle am Tag, Messeropfer oder von der Polizei niedergeschossene Messertäter, als normal hinnehme und uns daran gewöhnt haben. Auf Zypern dagegen ist es völlig ruhig, friedlich, ungefährlich, und die Messereien finden auf der Theaterbühne statt.
Könnte man in Berlin noch Carmen Open Air aufführen?
Bräuchte man in Deutschland nicht längst eine Hundertschaft an Polizisten, Metallsensoren, Röntgengeräten, Rucksackontrollen und Schutzpoller gegen Autos, die in die Menge fahren?
Würde man das nicht politisch attackieren und medial zerreißen, weil sexistisch und maskulistisch und Femizid und so weiter und so fort?
Während man auf Zypern einfach so am Hafen eine Bühne aufbauen und eine Oper aufführen kann, und alle freuen sich, und die, die es sehen wollen, gehen hin und haben Spaß, und das einzige Problem daran ist, dass der normale Parkplatz dafür nicht groß genug ist?
Dass wir gar nicht mehr merken, nicht mehr wahrnehmen, was für eine kaputte Gesellschaft Deutschland geworden ist? Dass wir uns nur noch mit Messerstechereien befassen, während andere Opern schauen?