Ansichten eines Informatikers

Von der Angst, in Deutschland noch seine Meinung zu sagen

Hadmut
24.7.2025 20:02

Ein pathologischer Gesellschaftsbefund:

Wir erleben einen enormen Meinungsterror.

Es ist ja auch schon ein running gag, dass wer noch eine Meinung äußert, einen guten Bademantel braucht und die Wohnungstür erst gar nicht mehr abschließen sollte. Ich empfehle ja, die Wohnungstür durch einen Fransenvorhang zu ersetzen, dann braucht man hinterher wenigstens nur neue Rechner und Handys, und nicht auch eine neue Wohnungstür.

Ich hatte mich vor einiger Zeit mal mit der Frage befasst, ob der Straftatbestand der Beleidigung überhaupt verfassungskonform ist:

Strafgesetzbuch (StGB)
§ 185 Beleidigung

Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung öffentlich, in einer Versammlung, durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) oder mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Während bei Mord, Totschlag, Diebstahl, Betrug, Körperverletzung und so weiter inhaltlich umschrieben ist, was der Straftatbestand ist, ist das hier nicht der Fall. Beleidigung ist ein völlig unbestimmter Rechtsbegriff.

Und das geht eigentlich nicht, denn es gibt Anforderungen an die Bestimmtheit eines Gesetzes, insbesondere einer Strafvorschrift. Eigentlich kann man danach gar nicht bestraft werden.

Es gibt aber irgendeine Entscheidung des BGH oder des BVerfG, in der genau die Frage untersucht wurde und – verfassungswidrig – geurteilt wurde, dass das auch erfüllt sei, weil ja die Rechtsprechung das Ding entsprechend mit Inhalt gefüllt habe. Was natürlich Unfug ist, weil das zwei verschiedene Staatsgewalten sind und Richter in Deutschland nicht gewählt auch nicht abgewählt werden.

Ach, ja, hier ist es: Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 1995, 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92, 1 BvR 221/92

§ 185 StGB ist auch nicht zu unbestimmt und verstößt damit nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Zwar unterscheidet er sich von den übrigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs dadurch, daß er den Straftatbestand lediglich mit dem Begriff der Beleidigung benennt, aber nicht näher definiert. Auch wenn das für eine unter der Geltung des Grundgesetzes erlassene Strafvorschrift als unzureichend anzusehen sein sollte, hat der Begriff der Beleidigung jedenfalls durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt, der den Gerichten ausreichende Vorgaben für die Anwendung an die Hand gibt und den Normadressaten deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben (vgl. BVerfGE 71, 108 <114 ff.>). Soweit es zur Kollektivbeleidigung noch ungeklärte Streitfragen gibt, wird dadurch die Bestimmtheit der Norm nicht berührt.

Was natürlich völliger Quatsch ist, denn welcher Bürger sollte schon in der Lage sein, die „über hundertjährige Rechtsprechung“ durchforstet und durchdrungen zu haben?

Und welchen Wert haben überhaupt unsere 76 Jahre alten Grundrechte, wenn man sich an der über hundertjährigen Rechtsprechung orientiert?

Welche Staatsgewalt ginge da noch vom Volke aus und würde in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, wenn die über hundertjährige Rechtsprechung der Maßstab ist?

Worin soll da überhaupt noch der Gesetzgebungswille bestehen?

Der Knackpunkt

Ich habe das ja mal durchgespielt. Erstaunlich viele Strafverteidiger machen keine Beleidigungsfälle mehr, weil sie sagen, sie wüssten gar nicht mehr, was Beleidigung ist und was nicht, das würde völlig willkürlich gehandhabt.

Und (zumindest als Masing noch Verfassungsrichter war) viele Gerichtsentscheidungen von Landgerichten, Oberlandesgerichten und sogar des BGH wurden aufgehoben, weil sie verfassungswidrig waren, das Bundesverfassungsgericht also unterstellte, dass selbst viele Berufsrichter das nicht mehr einordnen können.

Und ich habe ja gerade mit zwei Staatsanwälten zu tun gehabt, die nicht einmal die Grundlagen beherrschten und – obwohl dafür zuständig – gar nicht wussten und sagen konnten, was eine Beleidigung ist und was noch durch Meinungsfreiheit gedeckt ist.

Die meisten Juristen können nicht mehr sagen, wann was eine Beleidigung ist. Und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (allerdings von 1995, bevor der Gesinnungsterror losging) ist sachlich unrichtig (oder nicht mehr richtig), denn wenn das Gesetz seit über hundert Jahren gleich formuliert ist und auf einer gefestigten Rechtsprechung steht – wie ist es dann möglich, dass sich der Straftatbestand immer weiter ausweitet und immer mehr Fälle darunter fallen?

Wie ist es möglich, dass sich der Straftatbestand ganz ohne Handeln des alleine dazu befugten Gesetzgebers so sehr verändert?

Na, eben weil er nicht hinreichend bestimmt ist.

Und nicht nur der Straftatbestand weitet sich immer weiter aus – auch das Gewicht. Das wäre in den 1970er und 1980er Jahren noch weithin undenkbar gewesen, wegen einer Beleidigung eine Hausdurchsuchung zu betreiben. Das war mal so gering angesehen, dass man es an einen Strafantrag band und kein öffentliches Interesse sah.

Chilling Effect

Die Amerikaner haben dafür einen schönen Begriff, den „chilling effect“ – nämlich dafür, dass solche Maßnahmen einen abkühlenden Einfluss auf die Meinungsfreiheit haben. Die Leute trauen sich nicht mehr. Und schon das würde man in den USA als verfassungswidrig ansehen.