Ansichten eines Informatikers

V1, VR und V2 – ich glaube, ich hab’s jetzt verstanden

Hadmut
28.12.2023 23:29

Vom Starten eines Flugzeuges im Allgemeinen und Besonderen. [Update]

In all der Diskussion hat mir ein Leser einen Linke auf eine hervorragende Information geschickt, weil ich ja geschrieben hatte, dass mir das nicht einleuchtet, dass manch Leser von den Geschwindigkeiten V1 und V2 oder V1 und VR (mal groß, mal klein) schreiben, und mir zwar – bedingt, weil es nicht nur von der Geschwindigkeit abhängt – einleuchtet, dass V1 die Geschwindigkeit ist, ab der man nicht mehr abbrechen kann. Und dass VR (r für rotate) die Geschwindigkeit sei, bei man den Bug anhebt, die Nase hochzieht um abzuheben, aber mir dann überhaupt nicht einleuchtet, dass danach noch eine Geschwindigkeit V2 kommen soll, bei der dann auch das hintere Fahrwerk abhebt. Weil man ja erstens nicht mit abgehobenem Fahrwerk beschleunigt (sofern nicht besoffen oder sowas, Beispiel folgt unten), und zweitens mir nicht klar ist, was der Pilot außer Gas zu geben und am Steuer zu ziehen nochmal extra tun sollte, um jetzt auch das hintere Fahrwerk anzuheben, denn wenn das Flugzeug Geschwindigkeit und Anstellwinkel hat, ist der Auftrieb ja da und dann geht es – zwangsläufig – hoch (Ausnahmen bestätigen die Regel, siehe unten).

Deshalb hat mir ein Fluglehrer einen Link auf eine Seite von Airbus zur Flugsicherheit geschickt, wo sie genau das mit den Geschwindigkeiten wunderbar erklären: Control your speed… at take-off (mit PDF zum Download).

Ich denke, es ist unproblematisch, Airbus da eine gewisse Sachkunde und Autorität zuzubilligen, auch wenn mich als Laie – so sehr ich mich über die Seite freue – doch irritiert, das Airbus das überhaupt erklärt. Damit der wackere Verkehrspilot vor dem Start nochmal schnell googeln kann, wie es geht?

(Man sagte mir vor einiger Zeit in einem Zug anlässlich eines unmotivierten und erklärlichen Haltes des ICE bei Nacht und Schnee auf freier Strecke mit Ankündigung, wir müssten in einen anderen Zug umsteigen, dass Lokführer heute ihre Züge auch nicht mehr beherrschten und im Störfall auch nur noch ein spezielles Callcenter für Tipps und Tricks anrufen, und die dann fragen, ob sie schon mal einen Reboot versucht haben. Nach einer Stunde ging der Zug plötzlich wieder. Vielleicht ist das bei Flugzeugen heute auch so.)

So sehr ich mich über den gut verständlichen Inhalt der Seite freue, so sehr beunruhigt mich deren schiere Existenz. Dass Airbus Webseiten schreibt, wie man deren Flugzeuge starten sollte. Andererseits, ist ja immer gut zu wissen, man weiß heute ja nie. Es gab ja auch schon eine Webseite, die übersichtlich erklärte, wie man mit einfachen Mitteln eine Blinddarmoperation durchführt. Seit Fachkräfte und Handwerker knapp sind, muss man sich ja um manches selbst kümmern.

Airbus meint, es sei zum Starten schon hilfreich, geradezu erforderlich, das mit den Geschwindigkeiten wenigstens im Grunde verstanden zu haben. Womit sie nicht Unrecht haben und freundlicherweise auch gleich beschreiben, wo man auf diesen fürchterlich unübersichtlichen Armaturenbrettern die Geschwindigkeit ablesen kann. Ich kann das nur uneingeschränkt begrüßen. Warum gibt die Bundesregierung so etwas nicht auch für Autos heraus?

V1: Decision speed

Ich hatte ja schon gewisse Zweifel geäußert, dass mir nämlich die Geschwindigkeit V1 zwar in ihrer Grundtendenz, aber nicht in allen Details einleuchte.

V1 sei die Geschwindigkeit, ab der man den Start nicht mehr abbrechen kann, weil der Rest der Landebahn nicht mehr zum Abbremsen reicht. Das ist zwar plausibel, hängt aber mathematisch nicht allein vom Tempo ab, sondern auch vom Ort. Wenn ich mich blöd anstelle und mit 50km/h über die Startbahn fahre, werde ich (außer mit besonderen kleinen Flugzeugen oder Dreifachdeckern aus dem ersten Weltkrieg) niemals abheben, komme aber trotzdem irgendwann gegen Ende der Startbahn ganz sicher an den Punkt, an dem der Rest nicht mehr zum Bremsen reicht. Ist prinzipiell auch beim Fahrrad so. Irgendwann ist es immer zu spät zum bremsen.

Die volle Erleuchtung bringt mir nun Airbus selbst:

V1 is the maximum speed at which a rejected take-off can be initiated in the event of an emergency.

V1 is also the minimum speed at which a pilot can continue take-off following an engine failure.

This speed is entered by the crew in the MCDU during flight preparation, and it is represented by a “1” on the speed scale of the PFD during take-off acceleration (fig.2).

If take-off is aborted at V1, the aircraft must be able to be stopped before the end of the runway, without exceeding the maximum energy the brakes can absorb.

Und das ist schon genauer und bestimmter als das, was mir Leser bisher dazu schrieben. Es heißt nämlich nicht nur, dass der Pilot ab V1 weitermachen muss, sondern es heißt auch, dass er es auch mit einem Triebwerksausfall kann.

Und: V1 wird nicht nur durch den Rest der Landebahn bestimmt, also dass das Flugzeug bis zum Ende der Landebahn wieder stehen kann, sondern auch die kinetische Energie, die das Flugzeug bei einer Geschwindigkeit hat, und der kinetischen Energie, die das Bremssystem aufnehmen kann, woran ich noch gar nicht gedacht hatte. Mir ist beispielsweise nicht klar, ob man auch bei einem Abbruch der Landung den Umkehrschub zur Verfügung hat, und gerade an dem dürfte es nach einem Triebwerksausfall mangeln.

Woraus man jetzt allerdings auch die Überlegung ableiten könnte, ob man auch oberhalb von V1 noch einen Start abbrechen kann, aber dann halt eben das Fahrwerk brennt oder man zumindest einen Satz neue Bremsen und neue Reifen braucht, weil die Bremsen dadurch überhitzt werden oder man zu hart bremsen muss. Und mit meiner Vermutung liege ich nicht ganz falsch, denn weiter unten schreiben sie:

Virtually, any take-off can be “successfully” rejected, on the proviso that the reject is initiated early enough and is conducted properly. In this respect, the crew must always be prepared to make a GO/ NO GO decision prior to the aircraft reaching V1.

Doing otherwise exposes the aircraft to an unsafe situation where there either may not be enough runway left to successfully stop the aircraft – therefore resulting in a longitudinal runway excursion-, or maximum brake energy is exceeded and brakes catch fire.

Bringt Likes auf Youtube.

Ich hatte mich auch schon gefragt, was man macht, wenn man oberhalb V1 ist, also nicht mehr abbrechen kann, dann aber einen Triebwerksausfall hat, es also eine Situation gibt, aus der man nicht mehr raus kommt, weil weder bremsen noch abheben noch möglich ist. Es gehört aber anscheinend zur Kunst des Flugzeugbaus, die so zu bauen, dass es das zumindest bei Ausfall eines Triebwerks nicht gibt:

In addition, if an engine failure occurs after V1, then the aircraft must be able to achieve safely take-off with TOGA or derated power (enough lateral control).

TOGA steht womöglich für Take-off/Go Around (Starten und Durchstarten). Anscheinend bauen die die Dinger so, dass man bei jeder Geschwindigkeit zumindest eines kann: Bremsen oder auch mit einem Triebwerk weniger noch abheben. Mir sagte mal ein Privatpilot, dass Flugzeuge heute alle schrecklich übermotorisiert seien, weil die nur noch zwei statt wie früher vier Triebwerke haben. Fällt von vier Triebwerken eines aus, müssen die anderen drei viel weniger zusätzliche Leistung bringen, um es zu ersetzen, als wenn von zweien eines ausfällt, und das verbleibende allein das Flugzeug starten und fliegen können muss.

Neulich habe ich irgendwo gelernt, dass zweimotorige Flugzeuge ein größeres Seitenruder brauchen als viermotorige, weil beim Ausfall eines Triebwerkes die Schubasymmetrie, die das Seitenruder dann ausgleichen muss, um noch geradeaus fliegen zu können, dann viel größer wäre. Dass die deshalb aber leichter kaputt gehen, wenn man die bei voller Geschwindigkeit zu weit auslenkt. An sowas denkt man ja auch nicht gleich, aber gut zu wissen, falls man mal in die Situation kommt. Ich hatte ja schon erwähnt, dass ich mal unversehens und notfallsmäßig plötzlich ein kleines Flugzeug für ein paar Minuten geradeausfliegen musste. Wie leicht passiert einem das im Urlaubsflieger. Beim Einsteigen also immer der Blick: Wieviele Triebwerke.

V1 heißt aber wohl nicht, dass das Flugzeug bei V1 schon abheben kann, sondern dass man ab V1 auch mit einem Triebwerk weniger noch zum Abheben kommt, weil einem ja sonst auch nichts anderes mehr übrig bleibt. Es sei denn, dass, wie beim Muster B-737, was mir zwei Kapitäne schrieben, V1 schon ungefähr gleich VR ist.

V1 wird aber durch zwei Größen begrenzt: Wieviel Platz ist noch auf der Landebahn? Und wieviel Energie können die Bremsen aufnehmen? Und weil die das auch ausprobieren, gibt es auch ein Video vom A380, wo sie halt mal so bremsen:

Wir merken uns also:

These two conditions require identifying:

1 – The ground speed at which maximum energy is put into the brakes, when a RTO is performed at MTOW. This limit speed is defined during Airbus flight tests and is called VMBE = Maximum Brake Energy speed. V1 must be lower than VMBE.

2 – The minimum speed during take-off roll at which the aircraft can still be controlled after a sudden failure of one engine (be it a two or four-engine airplane).

In such a case, and if the take-off is continued, only the rudder will be able to counteract the yaw moment that is generated by asymmetric engine(s) thrust. Therefore if a failure occurs before reaching this minimum speed, the take-off must be interrupted to maintain control of the aircraft. This limit speed is determined during Airbus flight tests and is called VMCG = Minimum Control speed on the Ground. VMCG mainly depends on engine(s) thrust and pressure altitude. V1 must be greater than VMCG.

3 – The minimum aircraft speed at which the most critical engine can fail without compromising the safe completion of take-off after failure recognition. This design speed is called VEF = Engine Failure speed.

Considering that it is generally assumed humans have a reaction time to an unexpected event (such as a failure) of 1 second, V1 must be greater than VEF.

In addition, if an engine failure happens at VEF, then it must be possible to continue and achieve safely take-off with TOGA power. This means that VEF must be greater than VMCG.

Das sind zwar drei und nicht zwei, aber wir wollen ja nicht spitzfindig sein.

RTO ist Startabbruch, MTOW ist das Maximum Take Off Weight (=voll beladen, voll getankt). VMBE ist die Geschwindigkeit, die die Bremsen noch aushalten.

Und „V1 must be lower than VMBE“ meint, dass das Flugzeug ordentlich gebaut ist, dass das Ding also ziemlich große Bremsen haben muss.

Jetzt wissen wir, was es mit V1 auf sich hat. Kann man immer brauchen.

Sie raten von Startversuchen unterhalb von V1 ab, das werde nichts. Außerdem fahre das das Ding einem dann schief von der Startbahn, wenn einem vor dem Start ein Triebwerk ausfällt und man nicht schnell genug alle Triebwerke runternimmt:

In the event of an engine failure at low speed, any delay in reducing the thrust of the good engine(s) will lead to a loss of directional control and a very quick lateral deviation. Max rudder pedal and max manual differential braking may be required (refer to the new FCTM recommendation AO-020 “Low speed engine failure”).

Das ist wohl der Grund, warum die bis V1 immer eine Hand auf den Triebwerkshebeln haben. Um nicht mit dem Schub von nur einem Triebwerk auf Hafenrundfahrt zu gehen. Wäre peinlich, weil doch die anderen Piloten alle gucken. Und auch das hat wohl mit V1 zu tun, weil erst ab einer gewissen Geschwindigkeit wohl das Seitenruder genug Seitenauftriebskraft liefert, um asymmetrischen Schub nach Triebwerksausfall auszugleichen. Bei einem Auto mit Verbrennermotor kommt das nicht vor, weil die mir bekannten nur einen Motor haben. Aber seit es E-Autos mit zwei oder vier Nabenmotoren gibt, und ich das nun gelesen habe, wünsche ich mir da schon ein Seitenleitwerk, um noch geradeaus fahren zu können, wenn mal ein Nabenmotor ausfällt. Porsche mit Heckspoiler war gestern.

Sie meinen, es könnte auch passieren, dass man gar nicht hoch kommt und hinten über die Landebahn rausschießt. Das sieht dann auch blöd aus, weil auf den Flugzeugen ja auch immer die Kennzeichen drauf stehen und man dann weiß, wer es war.

VR: Rotation speed

Das ist einfach:

Definition

VR is the speed at which rotation can be initiated at the appropriate rate of about 3° per second. VR ensures that V2 is reached at 35 feet above the runway surface at the latest, including in the event of an engine failure at VEF. Therefore at 35 feet, the actual speed is usually greater than V2.

Da steckt das Wesentliche schon drin, da kommen wir gleich dazu. Was mich überrascht:

In principle, VR shall not be lower than V1.

Ich dachte, es wäre toll, wenn man eine Startbahn so lang macht, dass V1 > VR. Aber da hatte ich die Bremsen noch nicht bedacht. Und sie wollen ja auch nicht, dass man startet, solange man noch abbrechen könnte. Bremsen ist besser als abstürzen, und das, obwohl sie dann einen neuen Airbus verkaufen könnten. Edel. Sie könnten ja auch das Geschäft ankurbeln, indem sie hier falsche Ratschläge geben.

Ich hatte ja schon erwähnt, dass mir das mit V2 (hinteres Fahrwerk) nicht einleuchte, es sei denn, VR sei größer als V2, weil doch ein Flugzeug zwangsläufig abbremst, wenn man die Nase hebt, um Auftrieb zu gewinnen, weil Auftrieb immer mit mehr Luftwiderstand einhergeht. Und so ist es auch, VR heißt, dass die Kiste schnell genug ist, dass sie auch dann, wenn man mit VR fährt und die Kiste vorne anlupft, ist sie immer noch schnell genug, um dann noch abzuheben:

On the upper end, if the rotation of the aircraft is started at VR at maximum practicable rate, lift-off must be possible at the end of the maneuver.

Und auch das probieren sie vorher aus:

This limit speed is based on evidence collected during certification tests and is called VMU = Minimum Unstick speed. VMU is achieved by pitching the aircraft up to the maximum (tail on the runway, for aircraft that are geometrically limited) during the take-off roll. The speed at which the aircraft first lifts off is VMU; therefore lift-off is not possible prior to VMU.

Da gibt es lustige Videos auf Youtube, in denen Flugzeuge funkensprühend die Startbahn entlang kratzen, Tail Strike. Nicht, weil die Piloten zu doof sind, sondern weil das zu den Zulassungstests gehört, dass die einmal auf dem Hintern die Startbahn entlang schlittern müssen, um nachzuweisen, dass das Flugzeug das strukturell aushält und die Passagiere höchstens medium gebraten werden. Für die Tests, ab wann’s denn auch abhebt, schrauben sie sich dann noch ein zusätzliches Rad hintendran, um auf dem Hintern auch rollen und beschleunigen zu können, um zu sehen, wann es nun abhebt:

Wir merken uns:

VMU is different from the design lift-off speed VLOF, which applies to general case scenarios and is necessarily greater than VMU, according to the following criteria:

1.04 or 1.05 VMU (N-1) ≤ VLOF

1.08 VMU (N) ≤ VLOF

Man kann es auch kürzer fassen:

VR IN A NUTSHELL:

Do not start rotation below or above VR.

Tu einfach nur das, was man Dir sagt, und denk nicht drüber nach. Do not …

Es ist überhaupt ein wichtiger Grundsatz. Do not … Do gehört zu den häufigsten Todesursachen überhaupt.

V2: Take-off safety speed

Und jetzt kommt endlich das, was ich gar nicht verstanden hatte: V2.

Ich hatte mich gewundert. Wenn man bis V1 abbremsen kann und bei VR dann startet, Vollgas, Nase hoch, Auftrieb, los geht’s, was soll denn dann V2 noch sein? Und was sollte ein Pilot von VR zu V2 noch machen, mehr als Ziehen kann er ja nicht. Soll er noch gut zureden wie bei einem Pferd?

Des Rätsels Lösung liegt hier, und ich muss sagen, dass das unter all den Zuschriften, soweit ich sie jetzt in Erinnerung (und nicht nochmal durchgesehen) habe und sie V2 übehraupt erwähnten, nur einer der Verkehrspiloten richtig beschrieben hat, manche Privatpiloten das aber, zu meiner Verwunderung, nicht richtig verstanden haben.

Der 737-Kapitän nämlich schrieb:

V2 ist die Geschwindigkeit, die anliegen muss, wenn ein Triebwerk ausgefallen ist und das Fahrwerk eingefahren. Das ist das sogenannte „Second Segment“.

Fahrwerk eingefahren. Also eben nicht auf der Startbahn, sondern in der Luft, „airborne“. Deshalb habe ich die Zuschriften auch nicht verstanden, die von einer Fahrgeschwindigkeit oder Abhebgeschwindigkeit ausgingen.

Airbus:

Definition

V2 is the minimum take-off speed that the aircraft must attain by 35 feet above the runway surface with one engine failed at VEF, and maintain during the second segment of the take-off.

Aha. Übrigens gibt es von der amerikanischen Flugsicherheitsbehörde dazu einen hübschen kurzen Flyer für kleine Piloten, in dem steht, was all die Abkürzungen und Geschwindigkeiten eigentlich bedeuten: Mastering the Maze of V-speeds Wer schon immer mal wissen wollte … Ist ja auch alles nicht so einfach, blickt ja keiner mehr durch. So viele Schalter, so viele Anzeigen und auch noch so viele Abkürzungen und Geschwindigkeiten. Vom Landen steht nur wenig drin, aber runter kommen sie bekanntlich alle, auch ohne Spickzettel. Nur hoch eben nicht.

Und dann haben sie eine Grafik, die so toll ist, dass ich die einfach zitieren muss:

Airbus kann seinen Piloten das Fliegen so einfach erklären, dass es auch ein völliger Laie wie ich versteht. Wie umsichtig.

V2 gilt nämlich nicht am Boden, sondern bezieht sich auf die Anforderung, dass das Flugzeug am Ende der Landebahn eine Höhe von 35 Fuß erreicht und dort eine gewisse flugtaugliche Mindestgeschwindigkeit erreicht hat, auch mit einem Triebwerk weniger. Damit’s fliegt und nicht im Wald oder im Zaun um den Flughafen herum landet. Etwa 11 Meter.

Und deshalb ist VR auch so, wie es ist, nämlich wie beim Werfen eines Papierfliegers: Das Flugzeug muss beim Abheben schnell genug sein, um auch trotz der Bremswirkung des Anhebens der Nase für den Auftrieb (also der Umwandlung von kinetischer in statische/potentielle Höhenergie) und Ausfall eines Triebwerks so in die Höhe zu hüpfen, dass es am Ende der Startbahn über etwaige Hindernisse hinwegkommt (auch wenn uns die Klimakleber gelehrt haben, dass die Zäune um deutsche Flughäfen ein Witz sind und keinerlei Hemmungswirkung haben). Anscheinend wohl sind diese 35 Fuß so eine Norm für die Umgebung von Flughäfen. Kommt mir bekannt vor, weil in Berlin Tempelhof, wo ich nach dessen Schließung einige Male auf den Startbahnen Skaten war, aufgefallen ist, dass in der An- und Abflugschneise alles, die Bäume und die Masten mit den Navigationsanlagen und Anfluglichtern, auf eine Höhe rasiert war, und mir das auch schon in Pafos auf der Landstraße zum Flughafen aufgefallen war, wo auch solche Masten rumstehen.

Das ganze Geschwindigkeitendings ist also darauf ausgelegt, entweder wieder zum Stehen zu kommen oder auch mit einem Triebwerk weniger so in die Luft hüpfen zu können, dass man wenigstens so ein bisschen fliegen und wieder umdrehen kann und nicht in den Bäumen hinter der Startbahn hängen bleibt, weil man nicht hochkommt. Und deshalb ist VR auch nicht die Geschwindigkeit, bei der es aerodynamisch überhaupt abhebt, sondern bei der es genug abhebt, um mit einem kaputten Triebwerk noch über die Bäume oder Häuser zu kommen und eine Runde drehen und wieder notlanden zu können.

Und daraus folgt dann, was die Triebwerke können müssen.

Und daraus folgt wiederum, wie stark die Bremsen und die Reifen und das Seitenruder ausgelegt sein müssen.

Und die berühmte Notwasserung von „Sully“ im Hudson lag daran, dass es dem beide Triebwerke kaputt gehauen hat, und die Flieger dafür nicht gebaut sind. Hätte er vier gehabt, wären die wohl auch alle hin gewesen.

Ich glaub’, jetzt hab ich’s verstanden.

Jetzt verstehe ich nämlich auch eine Story besser, die man mir vor fast 40 Jahren zu meiner Bundeswehrzeit im Militärischen so erzählte. Auf dem Mannheimer Flughäfchen, früher hieß der umgangssprachlich „Flugplatz Neuostheim“, inzwischen City Airport, sei es zu einer Begebenheit gekommen. Dazu muss man wissen, dass der nicht nur klein und kurz ist, sondern sehr ungünstig gelegen ist, weil an beiden Enden der Bahn direkt Schnellstraßen vorbeiführen, da also überhaupt keine Toleranz am Ende ist. Würde man das Ende der Startbahn verpassen, stünde man quer auf der Straße – wenn nicht obendrein noch die Straßen gegenüber dem Flughafen erhöht und auf einer Art Wall gelegen wären. Wenn man also den Start nicht hinbe- und nicht hoch genug kommt, kracht man auf beiden Seiten in dem Wall, auf dem die Straßen liegen. Genau das ist wohl eben die grenzwertige Situation von „Flieger muss am Ende der Startbahn in 35 Fuß Höhe sein und V2 drauf haben“. Um über die LKW hinweg zu kommen, die da fahren.

Nun soll es sich damals dem Gerücht zufolge begeben haben, dass eine Transall der Bundeswehr dort landete, obwohl sie dort nicht hingehörte. Ich weiß auch nicht mehr, warum, aber ich glaube, es war unehrenhaft. Deshalb habe man sich schnellstmöglich aufgemacht, da wieder zu starten, bevor das offiziell werde. Damals war Deutschland noch geteilt und Mannheim amerikanische Besatzungszone, da hatten militärische Dinge gewisse Vorrechte und Eigenverwaltung. Der Tower nämlich habe gegen einen Start Einspruch erhoben, weil die Startbahn für eine beladene Transall zu kurz sei (was mich etwas wundert, weil sie ja für ihre Kurzstarteigenschaften berühmt war). Die Piloten dagegen hätten gemeint, och nöh, das sähen sie nicht so eng, und sie wollten auch nicht mit einer Transall erwischt werden, die sie auf einem Zivilflughäfchen versenkt hätten, und seien attackemäßig losgeflogen, und hätten es auch gerade so haarscharf geschafft. Augenzeugen hätten gesagt, dass sie Glück hatten, dass gerade kein LKW kam. Es hieß, eine Autofahrerin habe sich irritiert darüber gezeigt, dass ihr auf der Autobahn von einer querfliegenden Transall – gefühlt – die Vorfahrt genommen worden sei. Man habe das dann zum militärischen Geheimnis erklärt, um es aus der Presse und so weiter herauszuhalten, weil die Vorgesetzten das eben doch irgendwie mitbekommen haben. Jedenfalls war das mit den 35 Fuß damals wohl zu knapp.

Und wenn’s unterhalb von V1 nicht klappt?

Ein Leser machte mich auf ein Video aufmerksam. Zwar wurden jetzt keine Videos von erfolglosen Startversuchen unterhalb von VR oder V1 gefunden, aber er meinte, das Ding sei äquivalent dazu. Zwar habe dieser Flieger, Take-off in FFM von einer B-737 von Royal Air Maroc, die nötige Geschwindigkeit VR gehabt, doch fehlte etwas anderes: Der Pilot habe vergessen, die (Lande-)Klappen auf die Start-Stellung auszufahren.

Das Resultat ist klar. Wegen der dann zu kurzen Flügelgeometrie haben die Tragflächen nicht genug Auftrieb, und V1 und VR sind natürlich dafür berechnet und experimentiell ermittelt, dass die Klappen in der richtigen Stellung sind. Sind sie das nicht, fehlt es am nötigen Auftrieb bei dieser Geschwindigkeit, und, einfach gesagt, es fliegt halt nicht:

PASSENGER AIRCRAFT FAILS TO TAKEOFF! BOEING 737 NEAR TAIL STRIKE & STALL ON TAKEOFF

Wobei ich ja nun der Meinung bin, dass die Klappen beim ersten, erfolglosen Versuch schon etwas draußen und beim zweiten, erfolgreichen Versuch auch nicht weiter draußen sind. Ich glaube mich erinnern zu können, dass die bei der 737 beim Start auch nicht sonderlich weit herausragen. Das könnte eher sein, dass der wirklich zu früh abgehoben ist oder plötzlich Rückenwind hatte und Geschwindigkeit zwar gegenüber der Startbahn, aber nicht genug gegenüber der Luft hatte. Denn das kam ja bei der ganzen Diskussion auch in der Anleitung von Airbus zu kurz, ob sich die Geschwindigkeiten auf die Startbahn oder auf die Luft beziehen. Als ich meinen Sportbootführerschein gemacht habe, war das dort immer wichtig, ob es um eine Geschwindigkeit „über Grund“ oder „Fahrt durchs Wasser“ geht, ob ein Boot treibt oder wie stark es sich aus eigener Kraft gegenüber dem Wasser bewegt. Nun heißt es zwar, dass man beim Fliegen immer gegen den Wind startet (und es gibt Videos von Flugzeugen, die eigentlich gar keine Start- und Landebahn brauchen, sondern praktisch aus dem Stand gegen den Wind in die Luft hüpfen und sich einfach aus der Luft irgendwohin stellen, und deshalb auch auf winzigen Sandbänken im Fluss landen und starten können, wenn Wind ist, und bei einer Flugshow habe ich mal einen Dreifachdecker aus dem ersten Weltkrieg gesehen, dem schon die Breite der Startbahn für den Start reichte), aber sowas hätte ich dann schon gerne gewusst. Ich vermute aber, dass man das in den Bordcomputer eingibt und der das dann bei der Berechnung von V1 und VR berücksichtigt.

Das muss aber ein Scheiß-Gefühl sein, wenn man V1 überschritten hat und weiß, dass man nicht mehr bremsen kann, und dann hebt’s nicht ab.

Die Kommentatoren machen dem Piloten aber nicht etwa Vorwürfe, sondern loben ihn dafür, dass er cool und umsichtig reagiert und nicht etwa einen schlechten Start versucht, sondern die Maschine wieder auf die Startbahn gedrückt, mehr Geschwindigkeit aufgenommen und dann ein zweites Mal versucht hat. Und wenn man schon die volle Startgebühr bezahlt habe, könne man auch die volle Startbahn ausnutzen.

Sagen wir es so: Wieder was gelernt. Und man weiß nie, wann man es spontan brauchen kann.

Hat vielleicht irgendwer einen gebrauchten Airbus günstig abzugeben? Oder eine 737?

Update: Zum Video mit dem marokkanischen Flugzeug schreibt mir einer:

Hallo Hadmut,

diese Analyse warum der Flug von Air Maroc an diesen Tag nicht starten konnte ist leider falsch.

Es handelt sich hier um Wake Turbulence – der vorhergehende Flieger von Turkish Airways hat durch die Landung übelste Luftwirbel erzeugt, welchen den Start verzögert haben.

Das Ganze wird hier sehr ausführlich und verständlich in allen Aspekten von einen Berufspiloten, Ausbilder & Flugunfallspezialisten analysiert :

Viele Grüße

Gut. Der zeigt genau, und zwar anhand der Vorderkante der Tragflächen (während ich nur auf die Hinterkante geachtet habe), dass die Klappen auf Start ausgefahren sind, also dass der das eben nicht vergessen hatte.

Und: Toll erklärt und gezeigt.

Ha! Da lag ich mit meiner Vermutung „Rückenwind“ ja gar nicht mal so falsch. 🙂

Update 2: Den habe ich gerade gefunden, der erklärt V1, VR und V2 auch: