Ansichten eines Informatikers

Ärztemangel: Mittwochs nicht in den Finger schneiden!

Hadmut
30.3.2023 14:45

Aktennotiz.

Ich habe mir gestern in den Finger geschnitten. Nicht absichtlich. Ich habe noch nicht einmal genau verstanden, wie. Ich wollte mit einem breiten Cutter-Messer etwas kleinschneiden, um es „entsorgen“ zu können, und das hat auch lange und gut geklappt, aber irgendwie muss ich einen Moment nicht richtig aufgepasst haben, und mir das Messer aus der Hand gerutscht sein, irgendwie rutschte das Messer plötzlich durch die Luft, ich habe noch wahrgenommen, dass es mir durch den Finger ging, obwohl ich die Hand sofort zurückgezogen und das Messer frei auf den Boden habe fallen lassen, gemäß dem dem Rat des Volksmundes, dass man nicht in fallende Messer greifen soll. Ich habe zwar keinerlei Schmerz empfunden, nicht mal etwas gespürt, kam mir aber irgendwie verletzt vor, und dann lief auch das Blut. Augenscheinlich nur das äußerste Fingerglied des Mittelfingers erwischt, aber reichlich Sauerei.

Ziemliche Sauerei.

Ich habe für solche Fälle die Angewohnheit, die abgelaufenen Autoverbandskästen/-taschen, die man austauschen muss, um noch durch den TÜV zu kommen, immer für Notfälle in der Wohnung aufzubewahren, und so bin ich dann blutenden Fingers zum Regal, wo ich den habe, Tasche rausgezogen, Wundkompresse rausgefummelt, Wunde abgetupft, Desinfektionsmittel, und weil es nicht aufhörte zu bluten, ein Verbandpäckchen aufgemacht und druckverbandähnlich um den Finger gewickelt. Damit war erst mal Ruhe, aber es sah schon so ein bisschen nach Massaker aus, Blutspur, und vor allem unterhalb der Stelle, an der ich den Verbandskasten aufbewahrt habe, alles mit Blut versaut, Schuhe, Jacke, Zeugs, und vor allem der Verbandskasten selbst. So ein aufgerissener und mit Blut versauter Verbandskasten sieht ziemlich nach schwerem Unfall aus, aber es war eigentlich nur ein Schnitt in die Fingerbeere des Mittelfingers. Und ich habe auch gar nichts gespürt.

Es war übrigens das erste Mal in meinem Leben, dass ich tatsächlich mal einen Autoverbandskasten notfallmäßig gebraucht habe. Ich habe zwar schon oft die Mullbinden der abgelaufenen Kästen/Taschen für Salbenverbände und sowas verwendet, aber noch nie für akute Notfälle wie Blutung stoppen und sowas. Ist übrigens gar nicht so einfach, wenn man nur eine oder eineinhalb Hände benutzen kann, die sterilen Verpackungen aufzureißen. Und eigentlich könnten sie das auch größer draufschreiben, was drin ist. Wenn ich in der gut beleuchteten warmen trockenen Wohnung mit einem angeschnittenen Finger schon suchen muss, bis ich das Verbandpäckchen habe und nicht die Mullbinde oder die Wärmeschutzfolie, wie soll das dann bei Nacht, Kälte, Regen und einem so richtigen Unfall funktionieren? Alles an dem Ding haben sie genormt, aber das einfach mal so groß draufzuschreiben, dass man es auch unter Krisenbedingungen lesen kann, ist ihnen nicht in den Sinn gekommen. Nun bin ich ja inzwischen auch noch alterssichtig und brauche im Nahbereich die Lesebrille, und hatte die eben auch gerade auf, aber ich dachte mir, wenn ich die jetzt irgendwie verloren hätte (Unfall…) und dann bei Nacht und Dunkelheit und vielleicht einer richtig üblen Verletzung was finden sollte – irgendwie kommen mir nach fast 40 Jahren Autofahrerdasein Verbandskästen zum ersten Mal nicht gut vor. Es sieht alles gleich aus. Alles ist weiß, alles in Hellblau beschriftet. Jede Menge Angaben zum Hersteller, dessen Addresse, Web, E-Mail und Werbeslogan, CE-Zeichen, Angaben zum Recycling (also ob man ein kleine Stückchen dreckiger Plastikfolie nach einem Unfall zum Recycling bringen würde) anstatt dass sie das, was drin ist, so richtig groß und kontrastreich draufschreiben.

Und: Alles auf deutsch in komplizierten Worten.

Wir machen immer einen auf Einwanderungsland, aber wie beispielsweise ein Syrer mit einem deutschen Verbandkasten und Begriffen wie „Wundkompresse“, „Verbandtuch“, „Verbandpäckchen“ etwas anfangen können soll, sagen sie nicht. Man kommt aber nicht mit dem Auto durch den TÜV, wenn das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist.

Warum ist das nicht

  • Schwarz oder Knallrot auf weiß?
  • die wichtige Information, nämlich was drin ist, so groß gedruckt, dass es mindestens die Hälfte der Fläche einnimmt, und der ganze unwichtige Scheiß klein gedruckt?
  • englische und/oder Symbole mit drauf?

Irgendwie kam ich mir gerade vor wie der erste Mensch, der jemals einen Autoverbandkasten tatsächlich benutzt hat. Irgendwie ist das Zeugs doch nicht praktikabel. Ist das noch keinem aufgefallen?

Ich dachte auch erst, das wäre falsch verpackt, weil das Verbandpäckchen wie eine normale Mullbinde wirkte, weil die Verbandauflage weiter drin war, als ich das kenne. Vor allem war sie von außen nicht zu sehen, weil – alles weiß. Es wäre einfacher und durchschaubarer gewesen, wenn man die Wundauflage außenherum etwa rosa gefärbt hätte. Wenn man das nicht ständig macht und Hektik ist, würde es das einem deutlich vereinfachen zu erkennen, was man da hat und wie die Wundauflage richtig trifft.

Zwar ist das Ding sogar beschriftet. In der Tasche ist eine zusammengewickelte durchsichtige Plastikbeuteltasche, schwarz beschriftet. Jetzt, wo ich die auf meinem weißen Schreibtisch liegen habe, sehe ich da „Unsterile Verbandstoffe“ und „austauschpflichtige Sterilprodukte“. Und in kleinerer Schrift eine Auflistung, was wo drin ist. Da heißt es dann „Verbandpäckchen K“, „Verbandpäckchen M“, „Verbandpäckchen G“. Klein, mittel, groß. Auf den Päckchen selbst steht das aber nicht, sondern nur in kleiner Schrift „6cmx8cm“, “8cmx10cm” und “10cmx12cm”. Ich habe gestern das erstbeste verwendet, das ich zu fassen bekommen habe. Das größte der drei Größen, obwohl für einen Schnitt in die Fingerbeere das kleinste angemessen wäre. Nun ist das zwar kein Schaden (und ohnehin Zeugs, das 2019 abgelaufen ist), aber dadurch würde mit einem ernstlichen Unfall mit weiteren Verletzten nun das große Verbandpäckchen fehlen, oder vielleicht hätte ich bei einer großen Wunde versehentlich ein zu kleines erwischt, weil ich das gestern gar nicht gemerkt habe, dass es die da in drei Größen hat. Deshalb dann auch gleich den ganzen Finger eingewickelt, weil eben das größte Verbandpäckchen erwischt. Das kleinste hätte es auch getan.

Und die schwarze Schrift auf durchsichtiger Folie ist mir nicht gestern aufgefallen, als ich das Ding in der hellen Wohnung auf dem dunklen Fußabtretterteppichstück im Wohnungseingangsbereich liegen hatte, sondern erst jetzt auf dem weißen Schreibtisch. Wie soll das jemand bei Nacht auf Asphalt sehen können? Und überhaupt: Warum wird der Verbandskasten für den beschriftet, der die abgelaufenen Produkte austauscht (was ja keiner macht, weil eine komplett neue Tasche billiger ist) und nicht für den, der das Ding im Notfall verwenden soll?

Ich sehe da erheblichen Verbesserungsbedarf beim „User Interface“. Das ist alles eher hersteller- als benutzerfreundlich. Oder wenn mir das gestattet ist: Sowas ist doch Scheiße. Die Dinger sind noch vornehmlich auf Umsatz und Vorschriftenerfüllung und nicht auf Notfallversorgung gebaut.

Nun war die Blutung jedenfalls augenscheinlich gestoppt, es hat nicht mal wehgetan, und ich kam mir vor wie Bruce Willis mit Schulterdurchschuss: Alles dreckig und blutvermiert, improvisierter Verband, Sachschaden, aber grinsen und weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Der Verstand sagte mir, da reicht ein Pflaster nicht, da muss ein Arzt draufschauen.

Was also tun? Krankenwagen wäre ziemlich unangemessen, zumal die in Berlin ja sehr knapp sind und gebeten haben, sie nicht wegen Lapalien zu rufen. Nun gibt es hier in der Nachbarschaft einige Ärzte. Bei denen man zwar keinen Termin bekommt, und die auch keine neuen Patienten mehr aufnehmen, aber Erste Hilfe muss schon gehen (oder Zweite). Sportarzt, Chirurg, Kinderarzt, da muss ja was dabei sein, was Wundversorgung kann. Zahnarzt eher nicht.

Mittwoch Nachmittag, gegen 15:00 Uhr, und keiner macht auf. Keiner da. Bei einem hängt ein Zettel draußen, dass er krank ist.

Was machen?

Gegenüber ist eine Apotheke, wo ich immer mein Zeugs hole, wenn ich was brauche. Da mal mit dem eingewickelten Finger und der blutverschmierten Hand hin und gefragt. Die waren sehr hilfsbereit und haben sofort ihre Notfallliste herausgesucht, weil sie nämlich für eben solche Fälle eine Liste von Ärzten der Umgebung für den Notfall haben, und haben sogar für mich irgendeine Notfallnummer angerufen und gefragt, aber das Endergebnis war eben „Tut uns leid“. Is nich. Mittwoch nachmittag, da sei in Berlin kein Arzt da. Denkbar ungünstiger Zeitpunkt, sich zu verletzen. Ich gelobe, es beim nächsten Mal zu beherzigen und mir bessere Termine rauszusuchen. Das einzige, was mir bliebe, sei ein Krankenhaus aufzusuchen. Man nennt mir eines, das mit nur wenigen U-Bahn-Stationen und ohne Umsteigen zu erreichen sei.

Ich also zurück in die Wohnung, Jacke und Handy geholt, U-Bahn. Dort noch ein paar Straßen gelaufen und am Krankenhaus angekommen.

Drinnen rumgesucht.

Ah, wenn man erst mal weiß, wo er ist: Sie haben einen eigenen Klingelknopf „Erste Hilfe“.

Ja, setzen Sie sich mal dahin. War es ein Arbeits- oder ein Privatunfall? Privat? Dann brauchen wir Ihre Krankenkassenkarte. Wie gut, dass ich die dabei hatte.

Dann sitzt man da in einem trostlosen, etwas heruntergekommenen Gang.

Dann kam einer und ruft mich und eine Frau mit einer anderen Verletzung zusammen in das Behandlungszimmer.

Ich soll mich setzen, dazu stellt er einen Rolltisch vor mir auf, legt eine sterile Einmal-Unterlage mit Saugfähigkeit für Flüssigkeiten aller Art darunter und stellt noch einen Kaffeebecher drauf. So einen typischen Pappbecher wie aus dem Automaten oder der Cafeteria, gefüllt mit Kaffee.

Ich etwas irritiert. Warum stellt der da jetzt einen Kaffeebecher mit Kaffee hin? Trinkt der beim Wundbehandeln nebenbei seinen Kaffee aus dem unsterilen Pappbecher, oder ist der für mich? Bekommt man hier in der Notaufnahme einen Kaffee wie beim Friseur? Ich weiß nicht, ob ich mich bedanken soll, und ob es unhöflich ist, den Kaffee nicht zu trinken, weil ich Kaffee nicht mag.

Er wickelt mir den Finger aus. Und ich bin komischerweise dankbar dafür, dass die Wundlauflage und der innere Teil der Binde herrlich blutverschmiert ist, denn die eigentliche Wunde sieht gar nicht mehr so spektakulär aus. Blutete auch nicht mehr. Sah eigentlich ziemlich klein und unbedeutend aus. Er bedeutet mir, dass ich den Finger in den Becher stecken solle.

Hä!?

Den Finger in den Kaffee?

Bis mir klar wurde, dass das gar kein Kaffee, sondern Desinfektionslösung war. Irgendwas mit Jod, Braunol oder sowas, was die aber zur Fingerbehandlung in einen Getränkepappbecher gefüllt hatten, offenbar einen gewöhnlichen Kaffeebecher, und das Zeug sah wirklich aus wie Kaffee. Möchte nicht wissen, wieviele Leute das schon versehentlich getrunken haben, weil es wirklich aussieht wie ein Becher Kaffee.

Das Zeug wirkt. Zum ersten Mal seit dem Schnitt hat der Finger zwar weh getan, aber nach einer Viertel Stunde des Einweichens waren dann auch die Blutreste weg und das sah nach fast gar nichts aus. Zwar war der Schnitt tief im Sinne eines langen Schnittes, aber eher flach, im spitzen Winkel, ging deshalb nicht allzutief in den Finger selbst hinein. Ach, sagt er, „da können Sie einfach wieder nach Hause gehen“. Sah irgendwie harmlos und erledigt aus, weil sich die Wunde nach einer Stunde von selbst geschlossen zu haben schien, und da zwar ein eingeschnittener Hautlappen zu sehen war, aber nichts mehr von Blut.

Schön, sagte ich, aber kriege ich noch ein Pflaster oder einen Verband drauf?

Klar, sagte er, er habe nur gemeint, dass es nicht genäht oder behandelt werden müsse.

Nun stellte er sich beim Aufbringen eines Verbandes, so eine Art Fingerling, aber nicht sonderlich geschickt an und ich spürte, wie er den Hauptlappen gegen seine Liegerichtung verschob und die Wunde wieder aufriss. Und dann fing das wieder an, tropfend zu bluten. Ich solle drücken. Kompresse drauf gedrückt. Hilft nichts. Nach 10 Minuten blutet es immer noch, obwohl die Wunde ja eigentlich schon zu war und aufgehört hatte.

Dann ging es weiter wie in der Fernsehklinik: Die hübsche Ärztin kam zum Nähen. Ja, das müsse dann eben doch genäht werden. Gruselige Erinnerungen kommen hoch. Ich hatte vor fast 40 Jahren, Grundwehrdienst, mal einen Glassplitter im Daumen, der mir im Bundeswehrzentralkrankenhaus rausoperiert wurde, und die Betäubungsspritzen in den Damen waren so schmerzhaft, dass ich die nie wieder vergessen habe. Genau so zwei bekam ich dann in die Fingerwurzel. Damals bei der Bundeswehr hatten sie mir erklärt, dass die deshalb so weh täten, weil da kein Fettgewebe, sondern nur das Bindewebe um den Knochen herum sei. Und obwohl sie mir angekündigt hatte, dass man die Stiche trotzd er Betäubung spüren würde, hat das dann auch nochmal so richtig weh getan. Weil in der Fingerspitze eben ganz viele Nervenenden seien. Statt der ursprünglich geplanten zwei Fäden hat sie es deshalb bei einem belassen und den Rest mit Wundeklebestreifen zugepappt.

Jetzt tut mir die Hand weh. Nicht vom Schnitt (nur wenn ich drankomme), sondern von den zwei Einstichstellen der Betäubungsspritze.

Aber irgendwie wirkt das alles auf mich nicht ausgereift.

  • Warum sind Autoverbandskästen zwar genormt, aber so nutzungsfeindlich? Da wäre doch mal ein re-design angesagt.
  • Warum bekommt man in Berlin so schwer Erste Hilfe, zumindest Mittwochs?

    Das ist doch vor allem deshalb kritisch, weil die Feuerwehr und die Krankenhäuser wegen Überlastung jammern, weil die Leute bei jedem Wehwehchen den Rettungswagen samt Notarzt rufen oder sich selbst in die Notaufnahme einliefern, statt zum normalen Arzt zu gehen. Aber selbst die sachkundige Apotheke mit Notfallliste sagte mir nach Herumtelefonieren, dass nichts anderes bliebe als die Notaufnahme eines Krankenhauses aufzusuchen.

    Das ist doch konstruktiver Blödsinn. Was bleibt einem in der Situation denn sonst noch übrig, als den Rettungswagen zu rufen, oder, wenn man kann, wie ich gestern, mit der U-Bahn in die Notaufnahme zu fahren?

Einen hab’ ich noch:

Man sagte mir gestern im Krankenhaus bei der Behandlung, dass es sehr gut sei, dass ich sofort zu ihnen gekommen war. Viele Leute in Berlin kämen nach Verletzungen erst am nächsten Tag, und da sei vieles schon nicht mehr möglich oder zu spät.

Da könnte man ja mal darüber nachdenken, warum so viele Berliner nach Verletzungen erst am nächsten Tag ins Krankenhaus kommen. Vielleicht vor allem mittwochs oder donnerstags?

Ach ja, und man sagte mir, ich solle den Finger nicht zu sehr schonen, sondern bewegen, weil Finger bei solchen Verletzungen in Schonhaltung leicht steif würden. Also muss ich jetzt aufgrund ärztlicher Verordnung bloggen. Damit der Finger nicht steif wird.