Ansichten eines Informatikers

Pseudologia Phantastica

Hadmut
30.5.2020 18:47

Eine Ursachenforschung.

Ein aufdringlicher Leser nervt mich seit einiger Zeit, indem er mir ständig zu vielen Blogartikeln eigentlich die immer fast gleiche Mail schickt, nämlich mir zu dem Thema irgendwie den – mir bis dahin unbekannten – Begriff „Mythomanie” aufzudrängen. Er will partout erreichen, dass ich diesen Begriff einsetze, irgendwie hat er einen Narren daran gefressen. Anscheinend ist das eine neue Mode in irgendwelchen Foren. Alles scheint für ihn durch Mythomanie erklärbar zu sein.

Ich halte das für naiv. Bei weitem nicht alles ist durch „Mythomanie” erklärbar. Bei weitem nicht alles. Manches aber schon.

Man sollte sehr vorsichtig damit sein, Begriffe aus dem Bereich der Pathologie (und nicht allgemeiner Psychologie), die also irgendwelche Störungen oder Erkrankungen unterstellen, leichtfertig und auf größere Bevölkerungsgruppen anzuwenden. Man gerät da leicht in das Fahrwasser, jede Abweichung von der eigenen Meinung für pathologisch zu halten. Und das ist ja genau das linke Narrativ, dass alles, was nicht auf ihrer Linie ist, auf „Ängsten” und Schlimmerem beruhen müsse.

Wer es für pathologisch hält, anderer Meinung als er selbst zu sein, ist wegen starker Egozentrie und Narzissmustendenzen eigentlich eher selbst ein Fall für den Klempner. Und nicht selten habe ich beobachtet oder herausgefunden, dass Leute, die auffällig oft, stereotyp und leichtfertig anderen psychische Störungen nachsagen, vor allem dann, wenn es immer dieselben sind und Fachbegriffe verwendet werden, sie dies tun, weil sie damit selbst diagnostiziert worden sind. Alter Erfahrungssatz: Wer anderen wahllos die immer selben Psychoprobleme nachsagt, ohne dabei selbst einfach nur unfähiger Psychiater zu sein und seinen Beruf nicht zu beherrschen, hat aller Wahrscheinlichkeit selbst genau dieses Problem und guten Grund, den Begriff zu kennen.

Erfahrungsgemäß beruhen viele solcher Erscheinungen, die man damit diagnostieren will, schlicht und ergreifend auf schlechtem Charakter, schierer Dummheit, Bildungsmängeln, Denkfaulheit, kaputter Erziehung. Das ist nicht psychopathologisch. Das ist schlicht und einfach schlecht. Ein schnurgerade vorgebrachtes, geradliniges, schörkelloses, einfaches und althergebrachtes „Du Depp!” entspricht nicht der Rhetorik unserer Zeit, ist aber oft die zutreffendeste Diagnose. Früher war man mit dem Konzept (und auch der Person) des Dorfdeppen noch vertraut. Die heute Gleichmacherei und unterstellte Gleichwertigkeit jeglichen Gedankenwerks verbietet es aber, nach Schlauen und Dummen zu unterscheiden, weshalb man – analog zur Umgehung der Grundrechte durch den Staat mittels Flucht in das Privatrecht – der political correctness, die eben die Gleichwertung aller Meinungen vorschreibt, eine Umgehung zu schlagen, indem man den Umweg über das Pathologische nimmt und dabei das politisch korrekte Gebot der Inklusion jeglicher pathologischer Fälle großzügig ignoriert.

Das heißt aber nicht, dass es in besonderen Fälle nicht doch Leute gibt, für die „Du Depp!” dann doch nicht adäquat ausreichend ist, und auf die das dann doch zutrifft.

Bei der Bedeutungsforschung dieses mir bis kürzlich unbekannten Begriffes bin ich jedoch in der allwissenden Müllhalde Wikipedia darauf gestoßen, dass der hauptsächlich benutzte Begriff ein anderer ist, der mir viel besser gefällt: Pseudologia phantastica

Ist das nicht wunderbar? Hört sich an wie ein Eintrag aus Hitchhiker’s Guide to the Galaxy. Ich finde den Begriff sagenhaft schön.

Mit dem Begriff Pseudologia phantastica („Lügensucht“) bezeichnet die Psychiatrie seit Anton Delbrück (1891) den Drang zum krankhaften Lügen und Übertreiben. Häufiger wird heute der Begriff pathologisches Lügen verwendet. Eine besondere Form der Pseudologia phantastica stellt das Münchhausen-Syndrom dar, bei dem der Patient körperliche Beschwerden erfindet und durch Lügen untermauert, um die Aufmerksamkeit von Ärzten zu bekommen. In der modernen psychiatrischen Klassifikation wird diese Störung unter „andere Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen/artifizielle Störung“ (ICD-10: F68.1) eingeordnet. In Abgrenzung zum Wahnhaften im Rahmen von Psychosen oder anhaltend wahnhaften Störungen (ICD-10: F20, F22) kann der Pseudologe seine Überzeugung im Licht der Realität revidieren. Jedoch hält die Störung vergleichbar der Kategorie F22 lange an, ohne dass sie von Phasen der Normalität unterbrochen wird. Es finden sich in der Regel keine aktuellen äußeren Anlässe für das Verhalten (wie z. B. bei sogenannten „Notlügen“), so dass ein innerer Anlass als Ursache angenommen werden kann.

Ich hätte ja gewettet, dass das erblich ist und deshalb in der Verwandtschaft gehäuft vorkommt. Erblich ist es wohl nicht, aber trotzdem verwandtschaftsrelevant:

Menschen, die schon in der Säuglingszeit auf idealisierbare Eltern hätten verzichten müssen, ersetzten diesen Verlust durch die Phantasie der eigenen Allmacht (Größen-Selbst). Die zur Schau gestellte Verachtung für alle Werte und Ideale diene der Abwehr und Verleugnung einer Sehnsucht nach einer idealisierbaren Elternfigur bzw. der Neigung, idealisierende Übertragungen herzustellen. Die Gefahr, die von diesen Übertragungen ausgehe, sei die einer traumatischen Zurückweisung durch das idealisierte Objekt, mit der Folge unerträglicher narzisstischer Spannung und schmerzhafter Beschämung und Hypochondrie. Der Stolz dieser Patienten auf die Geschicklichkeit, mit der sie rücksichtslos ihre Umwelt manipulieren, diene zusätzlich dazu, zu verhindern, dass Leere und Mangel an Selbstwertgefühl an die Stelle der fortwährend kriminellen Aktivität des Größen-Selbst, in Wort oder Tat, treten.

Na, wenn das nicht ein Volltreffer ist.

Und wenn es an Kindheit und Erziehung liegt, dann häuft es sich auch ohne vererblich zu sein bei Geschwistern.