Ansichten eines Informatikers

Mami, ich will auch ‘Harry Potter’ lesen.

Hadmut
26.2.2017 13:37

Es ist zum Verzweifeln.

Das Käseblatt DIE ZEIT jammert gerade darüber, was für ein Schock es für Eltern aus Europa oder USA sei, mit asiatischem Leistungsniveau in der Grundschule konfrontiert zu sein. Ein Erstklässer beklagt, dass er noch nicht lesen könne, seine Mitschüler aber schon Harry Potter läsen, (habe ich ‘lesen’ jemals im Konjunktiv der 3. Person plural verwendet – kommt mir gerade nicht so vor.), und die Mutter das nicht glauben wollte, weil sie doch erst noch lesen lernen müssten.

Ich frage mich gerade, wo die ZEIT eigentlich ihre Redakteure rekrutiert, dass die es für asiatisch halten, wenn man in der ersten Klasse lesen kann.

Ich konnte in der ersten Klasse auch lesen. Und kann mich sogar sehr genau daran erinnern. Denn ich wurde in Rheinland-Pfalz eingeschult, musste aber nach 3 Monaten die Schule wechseln, weil wir umgezogen sind, und bin dann in eine Grundschule nach Hessen gekommen. Am ersten Schultag der neuen Schule sagte mir die Lehrerin, was man da so machen wolle (lesen zu lernen hatten sie vor) und was man schon getan habe, und fragte mich, was wir denn an der alten Schule schon getan hätten. Ich hatte da etwas verständnislos reagiert und gesagt, dass wir Lesen doch schon längst hatten (eigentlich schon im Kindergarten). Die Lehrerin (Frau Melchior) lachte, dachte, ich hätte da was verwechselt, und meinte, dann könnte ich ihr doch sicher etwas vorlesen. Ich kann mich an die Szene erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ich kam nach vorne, stellte mich neben das Lehrerpult, und bekam ein Buch mit Schreibschrift. Und habe da einfach so eine halbe Seite flüssig vorgelesen. Die Lehrerin war ziemlich verdutzt. Ich habe damals nicht verstanden, warum die das fragte, weil wir in der anderen Schule in Rheinland-Pfalz eigentlich alle schon lesen konnten. Ich habe das erst danach gemerkt, dass die da Lesen noch nicht dran hatten. Jahre und zwei Schulwechsel (aufs Gymnasium und noch ein Umzug) später stellte ich zufällig fest, dass einer meiner besten Oberstufenkumpel gerade der war, der schon in der ersten Grundschule direkt neben mir gesessen hatte, und wir hatten uns mal über unsere Grundschulzeit unterhalten. Der hatte das auch gesagt, dass die da alle schon lesen konnten, weil das schon im Kindergarten geübt worden war. Zu der Zeit nämlich gab es damals in einem Kaufhaus in der Nähe – kurzzeitig – so eine Taschenbuch-Billig-Auflage von Karl May-Büchern. Da habe ich so acht oder neun bekommen, dann gab’s die nicht mehr, und die hintereinander weggelesen, und dann hat das mit dem Lesen gesessen, fertig. Und gerade, wo die da jetzt von Harry Potter reden: Ich habe vor Jahren mal einem Grundschulkind, bei dem es mit dem Lesen nicht so zufriedenstellend stand, einfach Harry-Potter-Bücher geschenkt. Das Kind hat sich wie ein Wahnsinniger drauf gestürzt, und danach hat das mit dem Lesen vollständig gestimmt und gesessen. Lesefähigkeit innerhalb weniger Tage selbständig, unbeaufsichtigt und ohne jeden Zwang auf 100% und noch Spaß dabei. Ich habe mir hinterher vorlesen lassen, auch aus anderen Büchern, konnte völlig einwandfrei lesen. Warum schaffe ich mit ein paar geschenkten Büchern, was die Schule nicht geschafft hat? Geistig normal gewachsene Kinder können in diesem Alter innerhalb weniger Monate zügig so weit lesen lernen, dass sie da von alleine weiterkommen, wenn vorher (im Kindergarten oder der Familie) schon das Verständnis für Buchstaben vermittelt wurde.

Nach der Grundschule in Hessen kam ich übrigens wieder zurück nach Rheinland-Pfalz, weil es in der hessischen Stadt, in der ich damals wohnte, kein Gymnasium gab. Da dann der umgekehrte Schock, weil ich dort dann der einzige war, der außerhalb von Rheinland-Pfalz in der Grundschule gewesen war, und das dann nicht zu dem passte, was die im Gymnasium voraussetzten. Grammatik hatte ich nämlich in Hessen gar nicht gelernt. Die redeten da wie selbstverständlich von Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbien, 3. Person, und so weiter, und ich hatte nicht den geringsten Schimmer, wovon zur Hölle die da eigentlich redeten. Kam in Deutsch dann auch nicht mehr so dran, dass man das da nachlernen konnte, ich habe es mir dann mühsam über den Umweg des Lateinunterrichts erarbeitet. Dafür hatte ich in Hessen in der Grundschule schon Englisch-Unterricht gehabt und war den anderen in Englisch voraus.

Es zeigt aber, wie erodiert das deutsche Bildungssystem ist und dass es da keine verbindlichen Anforderungskataloge gibt.

Ich bin durchaus der Meinung, dass Kinder in der ersten Klasse grundlegend flüssig lesen können müssen. Gerade weil ich ja von mir selbst noch weiß, dass wir das damals konnten und wir das nicht als schwierig, sondern als selbstverständlich empfanden. (Schönes Vorlesen und Schönschrift waren nie mein Ding, da hatte ich gegen die Mädchen in der Klasse nie eine Chance.)

Warum dauert das heute länger, bis Kinder lesen lernen, und warum tun die heute so, als wäre das asiatisches Strebertum?