Ansichten eines Informatikers

Ich erinnere mich!

Hadmut
16.6.2011 0:06

Man hört und liest (auch im Kontext von Kindesmißbrauch) immer wieder, daß Menschen sich an nichts erinnern, was vor ihrem ungefähr 3 Lebensjahr passiert ist. Nur bis ungefähr zu diesem Lebensalter würde das Erinnerungsvermögen zurückreichen. Vorher würde man nichts in der Weise wahrnehmen, daß man sich daran erinnern würde, weil das Gedächtnis noch nicht so ausgebildet würde.

Stimmt nicht.

Seit meiner frühen Kindheit habe ich zwei seltsame Erinnerungsinhalte im Kopf, die nicht nachlassen oder verschwinden. Nicht schlimm, nicht unangenehm, nicht negativ oder belastend. Sind halt einfach so da.

Bei der einen Erinnerung, eigentlich nur eine kurze Situation, kann ich mich auch daran erinnern, daß ich das als Kind mal geträumt habe.

Bei dem anderen Erinnerungsmuster wußte ich nicht, woher ich das habe. Es war aber deutlich komplexer. Ich dachte (auch wegen der anderen Erinnerung), daß ich das ebenfalls geträumt hätte. Ich habe den Grundriß einer Wohnung im Kopf, sehr detailliert, so daß ich ihn auf Papier aufzeichnen kann. Ich kann sagen, wo die Fenster sind, wo die Eingangstür ist, wo welche Möbel stehen und wie sie aussehen. Als hätte ich in dieser Wohnung gewohnt. Nur daß mir andererseits beim besten Willen nicht einfiel, wo ich schon mal in einer solchen Wohnung gewesen sein könnte. Ich war mir im Gegenteil sogar sicher, noch nie in einer solchen, insbesondere nicht in dieser Wohnung gewesen zu sein.

Und ich habe eine seltsame Erinnerung an eine Begebenheit in dieser Wohnung. Ich weiß, daß zwei Menschen beteiligt waren, und ich kann sagen, wie sich ihre Stimme anhörte, und daß eine Person einen Schreck bekommen hat. Ich glaube sogar eine Ahnung davon zu haben, warum sie diesen Schreck bekommen hat, und ich weiß, wie sie sich danach bewegt hat, wo sie sich gesetzt hat, daß sie sich die Arme vor das Gesicht gehalten hat. Ich weiß, in welchem Raum es passierte, in welcher Ecke des Raumes, und auf welchem Möbel sie saß.

Aber etwas ist ganz komisch. Die Menschen haben keine Beine. Ich sehe nur einen Rumpf mit angedeutetem Kopf und angedeuteten Armen in der Luft schweben. Die Menschen haben kein Gesicht, also keinen Mund, keine Augen, so als wären sie nur mit geschlossener Haut überzogen. Ich weiß aber, daß sich da etwas abhob, was nach Nase aussieht. Eine extrem rudimentäre Wahrnehmung.

Ich weiß, daß die Personen redeten. Ich konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. So ein seltsames Klanggemisch. Eigentlich wie Wal-Gesänge. Ich weiß aber, daß eine Stimme ruhig und tief war, und die andere hoch und aufgeregt. Jemand hat einen Schreck bekommen.

Ende.

Jahrelang war ich davon überzeugt, daß ich das irgendwann als Kind mal geträumt haben muß. Ein Traum von der Sorte, die man dann nicht mehr vergißt. Hat mich nie gestört, war einfach nur da.

Vor einigen Jahren habe ich mich mit meinem Vater mal über Träume unterhalten. Und dabei diesen seltsamen Traum erwähnt. Mein Vater schaute mich verdutzt an und sagte, ich soll mal den Grundriß der Wohnung aufzeichnen. Habe ich gemacht und beschrieben. Und den erwähnten Vorgang nochmal detailliert erzählt. Und schaute dann in das völlig fassungslos erstaunte Gesicht meines Vaters.

Die Wohnung war die, in der wir damals während der ersten 6 Monate meines Lebens gewohnt haben. Mein Vater sagte, ich hätte sie exakt beschrieben, jedes Detail einschließlich der Proportionen und der Möbel stimmte genau.

Und der beschriebene Vorgang war eine kleine Begebenheit, die sich am ersten Tag zutrug, als ich nach meiner eigenen Geburt aus dem Krankenhaus entlassen worden war und den ersten Tag in dieser Wohnung verbracht, hatte. Also erst ein paar Tage alt war. Die beiden Personen waren meine Eltern. Und mein Vater konnte sich sehr gut an diesen Vorgang erinnern, weil eben etwas ungewöhnliches passiert war, was damit zusammenhing, daß zum ersten Mal ein Baby im Haus war. Auch da bestätigte er, daß das alles exakt so passiert war, wie ich es erzählt habe. Ich kann es aber nicht von anderen erfahren haben, weil es mir nie jemand erzählt hat.

Ich habe daher eine sehr genaue Vorstellung davon, wie ein Säugling seine Umgebung wahrnimmt. Und daß man sich an nichts erinnern kann, was vor dem 2. oder 3. Lebensjahr passiert sei, halte ich für nicht generell haltbar. Sicher nicht in der Qualität, die man sonst als Erinnerung gewohnt ist, aber da ist was.

Deshalb sollte man durchaus auch vorsichtig mit Kleinkindern umgehen.

16 Kommentare (RSS-Feed)

Kai
16.6.2011 7:27
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Ich erinnere mich das schon mal gelesen zu haben. Hast du einen ähnlichen Beitrag schon mal verfasst? 🙂


Hadmut
16.6.2011 7:38
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Kann sein. Ich kann mich jetzt aber wirklich nicht mehr an jeden meiner Blogartikel erinnern. So gut ist mein Gedächtnis nicht…


J.
16.6.2011 10:00
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ACK, an den Artikel erinnere ich mich auch, kann ihn aber nicht finden.


Christian
16.6.2011 10:05
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http://www.google.de/search?q=grundriss+site%3Adanisch.de

War im Rahmen der Buchkritik zu “Schaut nicht weg”


Bob
16.6.2011 10:52
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Das hast Du glaube ich bei der Rezension von Stefanie zu Guttenbergs Buch schonmal geschrieben.


Mephane
16.6.2011 10:55
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Hadmut, da du selbst aber nur diese zwei Erinnerungen an die Zeit früher hast, würde ich eher auf eine Ausnahme von der Regel sprechen.

Interessant ist deine Erinnerung, wie du sie beschreibst, auf alle Fälle. Die Art, wie du die Wahrnehmung beschreibst, passt eigentlich ganz gut – alles noch verschwommen, keine Beine (sicher nicht sichtbar aus der Position heraus, und keine Erfahrung aus der heraus das Gehirn diese automatisch ergänzen kann), nur undeutlich hörbare verschwommene Töne…

Und natürlich sollte man so oder so nicht vergessen, dass selbst was bewusst nicht mehr später erinnert werden kann, dennoch im Unterbewusstsein massive Nachwirkungen haben kann. Ich vermute, viele typischen Phobien (Spinnen, Höhen, enge Räume etc.) haben meist auch genau da ihre Ursache.


Eike
16.6.2011 11:05
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Die Wohnung kannst Du evtl. beschreiben weil Du danach viele Wochen/Monate dort gewohnt hast, aber ein Eindruck aus der ersten/zweiten Woche Deines Lebens, als Deine Augen noch nichts fokussieren konnten, halte ich für unwahrscheinlich. Erinnerungen lassen sich ja auch bestens manipulieren, da müssen nicht einmal 3te daran beteiligt sein.

Ich zweifle allerdings nicht daran das Dein Erinnerungsvermögen und auch die Wiedergabe dessen, besser ist als bei vielen Anderen.


Hadmut
16.6.2011 13:20
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Wer fotografiert weiß, dass auch eine Kamera, die nicht fokussiert ist, in irgendeinem Bereich scharf ist. Insofern ist es naheliegend anzunehmen, dass ein entspanntes Auge durchaus im Bereich der Zimmerdistanz einiges erkennen kann. Zudem habe ich ja geschrieben, daß ich nur Umrisse und keine Details erkennen konnte, die Personen keine Augen und keinen Mund hatten.


Hadmut
16.6.2011 13:39
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Ich könnte mir übrigens gut vorstellen, daß solche frühkindlichen Erinnerungen, deren Ursprung man nicht einschätzen kann, der Grund dafür sind, daß manche Leute glauben, schon einmal gelebt zu haben.


yasar
16.6.2011 11:17
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IIRC hast Du das schonmal beschrieben. Und Tatsache ist, daß Kinder diese Erinnerungen haben. Kann ich sogar an meine Kindern feststellen, wenn Sie etwas erzählen, was definitiv im Alter von 1-2 Jahren passiert ist.

Auch ich kann mich daran erinnern, daß ich z.B. mal auf einem Riesen-Weinstock herumgeklettert bin und sehr hoch über dem Boden war. Als ich nach Jahrzehnten genau diesen Weinstock wieder gesehen habe, war sofort klar, daß es dieser gewesen sein muß, maximal “erkletterbare” Höhe für ein Kleinkind ca. 30-40cm Aus den Größenverhältnissen habe ich dann geschlossen, daß ich damals gerade erst mobil geworden sein muß, also etwa 1-1,5 Jahre.


Werner
17.6.2011 1:27
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Man kann sich durchaus an frühkindliche Erlebnisse erinnern. Ich habe eine deutliche Erinnerung an eine Fahrt auf einem mit Säcken beladenen LKW in den Armen meiner Großmutter. Das war im Frühjahr 1945 auf der Flucht vor den Russen. Ich war damals etwa 18 Monate alt. Die Szene ist nur kurz, aber sie ist klar im Gedächtnis. Warum gerade das im Gedächtnis blieb, keiner weiß es.


_Josh @ _[°|°]_
18.6.2011 22:13
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@Hadmut, @Werner,

kann durchaus sein, daß im Zuge der beginnenden Hirnverdrahtung mal was zurückbleibt, allerdings ist das grundsätzlich eine äußerst seltene, obgleich auch in der Fachliteratur beschriebene Ausnahme. Ich würde also eher _nicht_ schreiben “Stimmt nicht”, sondern eher “Sehr seltene Ausnahmen kann es durchaus geben”.

Empfehle zu diesem Thema Eric Kandels “Auf der Suche nach dem Gedächtnis”, oder besser das Original “In Search of Memory: The Emergence of a New Science of Mind” für den Englischkundigen. Beeindruckernder, hochinteressanter Stoff vom Erfinder [=,-o] des Gedächtnis.


Hadmut
18.6.2011 22:16
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Oh, das würde mich interessieren. Wo ist denn das in der Fachliteratur beschrieben? In diesem Buch oder woanders?


_Josh @ _[°|°]_
19.6.2011 23:14
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Entschuldige die späte Antwort, war seit gestern Nacht “zugange” … =:-O

Ja, z.B. in diesem Buch, vorrätig sogar in den Uni-Büchereien Frankfurt/Main, Potsdam und Aachen — weiß allerdings nicht, ob Dir das groß weiterhilft.

Aber auch bei Oliver Sacks, etwa in seinem “Preface – An Anthropologist on Mars”, Martin Citrons “Letters to Nature”, Huda Y. Zoghbis “The Strength of Families: Solving Rett Syndrome” und by Jeremy Nathans’ “The Science of Sight: Getting the Picture”. Zugegeben, die Schwarten sind meist nicht ganz billig, allerdings recht lesenswert — wenn man es ohnehin erwerben muß. =.-O


Carsten
22.6.2011 15:09
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ich kann mich an diverse Erlebnisse aus meiner vor 3 Kindheit erinnern. Inklusive der Wohnung, dem Geruch der Blumen, die Baeume vorm Fenster, die Kellertreppe die ich runtergekegelt bin, den Besuch bei meinem Grossvater im Harz, der NAchbarin die Terror gemacht hat wenn ich geschrieb habe, etc. Das kann ich alles zeitlich gut einordnen weil wir umgezogen sind als ich 3 war …
Aber ich bin eh eine geborene Ausnahme. 😉


Kirsten
28.6.2011 12:41
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“Kleinkinder können sich an nichts erinnern, was im Alter von 0-3 Jahren passiert ist”, ist etwas, das viele Erwachsene gerne so hätten, weil es ihnen in den Kram passt. Da die Kleinen in diesem Alter (noch) nicht (richtig) reden, können sie natürlich auch nicht denken und sich nicht erinnern. Fischen tut der Angelhaken im Maul ja auch nicht weh, weil sie nicht schreien können.

Dazu passt unser allgemeins gesellschaftliches Verhalten gegenüber alten und behinderten Menschen: Wer nicht sehen kann, kriegt auch sonst nichts mit. Wer nicht gehen kann, schaltet sein Gehirn ab. Wer nicht sprechen kann, kann auch nicht denken. Wer im Koma liegt, bekommt nicht mit, wenn in seiner Umgebung schlecht über ihn geredet wird.

Man sieht nur, was man kennt. Und wenn wir immer erzählt bekommen, wir könnten uns nicht erinnern KÖNNEN, weil wir zu klein gewesen seien, dann glauben wir das irgendwann und sehen unsere eigenen Erinnerungen nicht mehr. Schade.