Ansichten eines Informatikers

…und der Name einer dieser Panikattacken lautet “postfaktisch”…

Hadmut
11.12.2016 16:11

Überaus lesenswerter Erklärungsansatz für das Medienphänomen „postfaktisch”:

Dass die Medien sich absprechen und von einander abschreiben ist ja klar, wenn die alle ebenso urplötzlich wie gleichzeitig auf diesen „postfaktisch”-Käse abfahren.

Auf Telepolis gibt es einen sehr lesenswerten Erklärungsansatz von Michael Schetsche. Den kenne ich zwar nicht, aber bemerkenswerterweise nutzt er dabei Soziologen-Vokabular und -Denkweisen und nennt das auch „soziologischen Zwischenruf”.

Ich halte das soziologische Gebrabbel zwar für Unfug, finde es aber trotzdem sehr interessant und beachtlich, wenn sich sogar innerhalb dieser Brabbelsphäre Widerstand regt und das selbst innerhalb dieser Gedankenwelt Widersprüche erzeugt.

“Post” kommt aus dem Lateinischen und bedeutet zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als “nach”. Insbesondere in den Kulturwissenschaften ist dies seit Jahren eine Modevorsilbe, die weniger etwas erklärt, als sie belegt, dass man nicht so genau weiß, was nach dem kommen könnte, über das man mehr als genug zu wissen glaubt. Die Rede von der “Postmoderne” wie die vom “Posthuman” treffen sich in dieser Grenzlinie zwischen Wissen und Nichtwissen.

Hehe. Ja. Ein rhetorischer Hilfsgriff um über etwas zu reden, wovon man nichts weiß.

Gut, danach rutscht er wieder in den Soziologen-Humbug ab, als er meint, dass „faktisch” nur die von Menschen geschaffene Tatsachen beträfe, „postfaktisch” also irgendwas nach der Menschheit beträfen. Das mag zwar etymologisch noch teilweise zutreffen, was sich aber weniger aus factum als Substantiv, sondern als Partizip von facere (machen, herstellen) und damit als Resultat einer Schaffenshandlung (vgl. Artefact) darstellt.

Das mag zwar etymologisch so einzuordnen sein, richtig wird es dadurch aber nicht, sondern wiederholt wieder nur mal die Soziologen-Religion, dass alles irgendwie vom Menschen geschaffen würde. Deshalb mag ich diese soziologischen Denkgebilde nicht. Die sind einfach falsch. Und innerhalb falscher Behauptungen kann man alles beweisen und widerlegen, deshalb entwertet der seine Rede durch sowas selbst.

Wichtiger wäre gewesen, genau daraus abzuleiten, dass schon die Wahl von „faktisch” eigentlich Unsinn und falsch ist und das alles sowieso nur rhetorische Kampfbegriffe sind, die auf Wirkung und nicht auf Argumentation ausgelegt sind.

Der eigentlich nach dem gewollten Sinn richtige Begriff wäre „postempirisch” gewesen, weil sich Empirie darauf bezieht, was da draußen in der Welt so wirklich ist, egal ob vom Menschen geschaffen.

Da wären wir nämlich bei dem, wovon die alle reden, ohne es zu verstehen: „Wirklichkeit”. Sie reden alle von Wirklichkeit und meinen das, woran sie glauben. Dabei meint der Begriff das Gegenteil, nämlich die Gesamtheit dessen, was wirkt, und seiner Wirkungen. Wirklichkeit funktioniert über Wirkungen (was eignetlich keine Aussage ist, weil der Begriff das ja schon sagt). Wirklichkeit ist nur über Empirie zu erfassen, nämlich über das Erforschen der Wirkungen, und nicht über das Machen (Faktische).

Insofern haben die sich sowieso alle im Wald verirrt.

Aber machen wir mal weiter:

Wissenssoziologisch informierte Beobachter wundert das nicht: Was kulturell jeweils als wahr gilt, ist kein ideeller Reflex einer irgendwie gearteten objektiven Realität (die Idee der Objektivität selbst ist eine Erfindung der modernen Wissenschaft – siehe Daston & Galison 2007), sondern Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse (dies könnte seit Berger & Luckmann 1969 bekannt sein). Und an dieser Konstruktion waren in den letzten zwei Jahrhunderten Massenmedien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen ganz wesentlich beteiligt.

Das heißt, wir reden hier gar nicht von Wahrheit und Wirklichkeit, sondern vom Glauben an dem, was uns die Presse auftischt. Naja, gut, auf der Schiene können wir weiterreden, da ist inhaltlich was dran, auch wenn ich die Begriffe für verfehlt halte.

Aufwerfen hätte man an dieser Stelle aber die Frage müssen … (boah, was’n Scheiß-Satz, ich fang nochmal an…)

An dieser Stelle hätte man aber die Frage aufwerfen müssen, ob nicht schon gerade darin das Problem und Symptom mangelnder Bildung und genereller Volksverblödung, und damit auch die Anfälligkeit gegenüber dem liegt, wovon wir hier reden, nämlich dass sich die Leute gar nicht erst auf eine objektive Realität beziehen, sondern glauben, was ihnen erzählt wird. Ob wir da nicht schon längst falsch abgebogen und auf dem Holzweg sind.

Und wenn der Autor dann schreibt, dass die Idee der Objektivität eine Erfindung moderner Wissenschaft sei, muss er sich die Frage stellen lassen, ob er eher diagnostizierender Arzt oder Bestandteil der Krankheit sein will.

Die Rede vom “Postfaktischen” ist deshalb auch nicht einfach nur “postmoderner Unfug”, sondern die neueste Diskursstrategie im seit der letzten Jahrhundertwende tobenden Kampf um die Zuständigkeit für die Konstruktion jener Wirklichkeit (von althochdeutsch wurken = arbeiten, tätig sein – mithin auch hier: Produkt menschlicher Tätigkeit) die Grundlage unserer Alltagsgewissheiten ist.

Das ist zwar soziologendoof formuliert, trifft in der Sache aber zu. Die Medien kämpfen um ihr Meinungsmachermonopol, die Lufthoheit, wollen ihren Alleinerklärungsanspruch verteidigen.

Und das sollte man sich dann auch intensiv klar machen, dass dieses „postfaktisch”-Geschwätz letztlich nichts anderes als die Aufforderung „Glaubt niemandem außer uns!” ist. Nicht, dass sich die Medien jemals groß um Realität geschwert hätten. Aber es schimpft sich halt so leicht.

Falls Niklas Luhmann (1995) mit seinen Analysen Recht hatte, haben die Massenmedien seit Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit (dies wiederum beschrieb Jürgen Habermas 1962) eine zentrale Funktion: die Herstellung und Absicherung des verbindlichen Sinnhorizonts einer Kultur, also die Bestimmung all dessen, was als “wahr und wirklich” gilt.

Grundregel: Wenn „Habermas” drin vorkommt, müssen sowieso alle Geschwätz- und Ideologiewarnlampen angehen. Dann isses sowieso unter Null.

Richtig ist zwar, dass die Massenmedien dies lange getan haben, weil sie ein technologisches Monopol hatten. Es war schlicht zu teuer, zu aufwändig, undurchfürbar für kleine, private Gruppen, zu publizieren. (Ich erinnere an meine Auskunftsklage gegen die Humboldt-Universität, wo es genau darum ging. Das Grundrecht der Pressefreiheit will man nur großen Verbänden zugestehen, wozu ich ausgeführt habe, dass dies ein juristischer Irrtum ist, weil es nie eine juristische Grundlage dafür gegeben hat, dass nur große Verbände Presse sein könnte, dies habe lediglich auf der damals verfügbaren, aber längst überholten Technik beruht. Das war also nur faktisch. Und nie rechtlich. )

Wenn man Luhmanns These durch die wissenssoziologische Idee der Konkurrenz orthodoxer (fraglos geltender) und heterodoxer (kulturell zurückgewiesener, illegitimer) Wissensbestände ergänzt, zeigt sich, dass die Rolle der Massenmedien bei der Festlegung orthodoxen Wissens seit der Jahrtausendwende prekär geworden ist.

Das muss man Soziologen schon lassen: Schwafeln können sie.

Man hätt’s auch einfacher sagen können: Seit wir Internet und Social Media haben und zum Publizieren ein Supermarkt-PC reicht, und man nicht mehr Druckerei, Vertrieb, Setzer usw. braucht, haben die großen Medien einfach ihr durch alte Technik verursachtes Monopol verloren.

Und die grausame Realität ist eben, dass sie es nicht schaffen, das Monopol durch Qualität weiter zu halten, was eigentlich auch nur zeigt, dass an der Presse eigentlich nie mehr dran war, als das technologische und finanzielle Monopol. Es war nie die Qualität ihrer Erzeugnisse.

Oder anders gefragt: Wozu soll eigentlich die Journalisten-Ausbildung gut sein, wenn so viele Laien die Journalisten abhängen können, sobald die technologische Hürde gefallen ist? Ist Journalist nur ein eingebildeter Pseudoberuf, der genausogut von Laien ausgeübt werden kann (wenn sie was im Hirn haben)?

Mit dem Aufstieg des Internets sind die traditionellen Leitmedien nicht mehr die unangefochtenen Konstrukteure von Wirklichkeit (siehe Merten u.a. 1994). Was sie, etwa die Tagesschau täglich um 20 Uhr, als “zutreffend und wahr” verkünden, erhält nicht mehr automatisch den Status kulturell unstrittigen orthodoxen Wissens.

Doppeldenkfehler.

Erstens haben viele noch nie dem Fernsehen und der Zeitung getraut. Aber es gab halt nichts anderes. Und weiter als über den Stammtisch hinaus konnte man die Zweifel auch nicht äußern. Wir haben nicht nur die Konkurrenz zu den Medien, sondern auch die Vernetzung des Medienzweifels, der damit vom gasförmigen in den flüssigen und festen Aggregatzustand wechselt.

Vielmehr ist eine Konkurrenz durch Netzwerkmedien entstanden, welche die gewohnte monodirektionale Informationsverbreitung (ein Sender, viele Empfänger) durch neue Formen der Verbreitung von Wissen ergänzt – und zwar von Wissen, das im Regelfall nicht von einer speziellen Berufsgruppe (Journalisten und Redakteuren) vor seiner Verbreitung kontrolliert, angepasst und zugerichtet wurde.

Das ist ein wesentlicher Punkt. Das ist richtig.

Stattdessen ermöglichen die “Neuen Medien” es jedem Nutzer und jeder Nutzerin (und das ist in Ländern wie dem unseren inzwischen die große Mehrheit der Bevölkerung), seine eigene politische Meinung, ihre eigenen Thesen über den Zustand der Gesellschaft und eben auch eine beliebige Anzahl von so genannten Tatsachenbehauptungen über dieses und jenes in die Welt zu setzen.

Diese Meinungen, Thesen, Behauptungen sind oftmals lebensweltnäher als das, was sich in “Welt” und “Spiegel” nachlesen oder in der Tagesschau anschauen lässt, ist aber genauso oft durch keinerlei Kenntnis gesellschaftspolitischer Zusammenhänge oder auch wissenschaftliche Befunde zu einem Thema getrübt.

Mag sein. Aber wieviele der Journalisten haben heute noch Kenntnis irgendwelcher Zusammenhänge?

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konnten “private Meinungen” regelmäßig nicht einmal Teil der heterodoxen Wissensbestände der Gesellschaft werden – ganz einfach deshalb nicht, weil es sich um Wissen handelte, das mangels entsprechender Übermittlungskanäle keine Chance hatte, öffentlich bekannt und damit vielleicht auch kulturell wirksam zu werden.

Das ist der springende Punkt.

Falls dies doch einmal gelang, etwa in Form eines im Eigenverlag veröffentlichten Bandes mit abweichenden Thesen über “die Wirklichkeit”, wurde dieses Wissen schnell von den zuständigen Instanzen sozialer Wirklichkeitskontrolle (“Wächter der Wirklichkeit” im wissenssoziologischen Sprachgebrauch) erst delegitimiert und dann gänzlich aus dem kulturellen Wissensvorrat auszusondern versucht.

Das ist jetzt ein Volltreffer.

„soziale Wirklichkeitskontrolle” – „Wächter der Wirklichkeit”.

Genau das habe ich selbst so erlebt. Als ich damals meine Erlebnisse mit der Uni Karlsruhe als Buch rausbringen wollte, haben mir reihenweise Verlage abgelehnt. Könne man nicht bringen, geht gar nicht, Kritik an Universitäten und Professoren gäbe Ärger. Kann nicht publiziert werden.

Also habe ich es einfach ins Internet gehängt, und ich staune noch heute immer wieder, wieviele Leute „Adele und die Fledermaus” kennen und noch heute drüber reden. Wagt es aber irgendwer, diese (oder mein Amazon-on-Demand-Buch über Feminismus) etwa in Wikipedia zu erwähnen, wird das innerhalb von 10 Minuten mit der Begründung gelöscht, sei alles nicht zitierfähig, weil nicht von einem seriösen Verlag herausgegeben. Das ganze Verlagswesen diente als Konstrollinstanz dessen, was verkündet werden darf, oder wie der Autor schreibt, als „Wächter der Wirklichkeit”.

Darauf muss man auch den Begriff der Lügenpresse stützen. Nicht erst auf erwiesene Lügen, sondern vor allem auf das, was sie nicht schreiben, ihre Selektivität.

Und plötzlich nun meldet sich der Teil, über den man nie berichtet hat, zu Wort. (Leute wie ich, zum Beispiel) Und auf einaml ist die Presse in Zugzwang, das alles als „fake” zu „delegitimieren”. Soziologensprech. Ich würde es eher als „diffamieren” bezeichnen. Da läuft eine Dreckschlacht.

Dieser Prozess der Nihilierung wurde bereits von Berger und Luckmann (1969) ausführlich beschrieben. Das beste Beispiel, wie solche Prozesse heute ablaufen, liefern die massenmedialen Debatten über vermeintlich ebenso irrationale wie politisch gefährliche Verschwörungstheorien – die letztlich ja nichts anderes anbieten als alternative, eben heterodoxe Erklärungen kulturell bewegender Ereignisse (siehe hierzu Anton u.a. 2013).

Hehe, ja.

Der Begriff der Verschwörungstheorie hat sich abgenutzt. Zu viele der Verschwörungstheorien haben sich als wahr herausgestellt.

Und auf vieles, was man bekämpfen will, passt er auch nicht.

Aber die Zeiten der primär massenmedial bestimmten Wirklichkeitskonstruktion scheinen vorbei. Abweichende Wissensbestände, alternative Weltdeutungen können nicht mehr so ohne weiteres aus den öffentlichen Debatten ausgeschlossen werden.

Ja.

Wir haben sogar noch einen interessanteren Effekt: Der Ausschluss unerwünschter Informationen wirkt nicht nur nicht mehr, sondern fällt inzwischen sogar negativ auf den Ausschließenden zurück (Stichwort: Lügenpresse).

Heißt: Das ganze Prinzip Presse funktioniert nicht mehr.

Diese Neuverteilung der Rollen im Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit erzeugt seit Jahren bei den traditionellen “Bestimmern der Wirklichkeit” (wie Berger und Luckmann sie damals nannten), namentlich bei den Beschäftigten der Massenmedien, eine durchaus begründete Zukunftsangst, eine Angst, die gelegentlich in veröffentlichten Panikattacken ihren Ausdruck findet. Und der Name einer dieser Panikattacken lautet “postfaktisch”.

Oh ja!

Diese Panikattacken beobachte ich seit Jahren auf Journalistenkonferenzen.

Schlimmer als die Panik ist aber deren Gefühl von Hilfslosigkeit. Die können nicht mehr normal und interessant schreiben.

Fazit: Das Attribut “postfaktisch” könnte man bestenfalls noch als einfach nur unglücklich gewählte Bezeichnung für einen Modus nicht massenmedial dominierter Konstruktion von Wirklichkeit durchgehen lassen – aktuell wird der Terminus in der Öffentlichkeit jedoch gerade nicht analytisch, sondern diskursstrategisch verwendet.

Ja. Ich nenne es „Beschimpfungsrhetorik”. Rabulistik.

Fazit

Da sind ein paar zutreffende Erkenntnisse drin.

Ich komme aber längst zu der Erkenntnis, dass diese Kampfrhetorik nicht funktioniert und die Medien sich mit dieser Strategie nur einen weiteren dicken Nagel in ihren Sarg schlagen.

Und ich empfinde es als sehr lustvoll und anregend, ihnen dabei zuzuschauen, es zu beleuchten, und dann und wann ein wenig mitzuhämmern.