Ansichten eines Informatikers

Die lustvolle Poesie des sich gegenseitig Verdauens

Hadmut
20.5.2016 12:38

Oh, Ihr seid so lieb zu mir.

Ganz viele Leser haben mir zum Verzehr von Ananas im Allgemeinen und dem Gesundheitszustand meiner Mundwinkel im Besonderen geschrieben, dass diese Verätzungseffekte (die bei mir trotz häufigen Konsums von Ananas übrigens erst zum zweiten Mal innerhalb meiner Erinnerungsspanne auftraten und in ihrer Intensität nicht ansatzweise geeignet sind, mich auch nur irgendwie davon abzuhalten, weiterhin Ananas zu fressen) nicht etwa (nur) auf den durchaus hohen Gehalt an Fruchtsäure in der Ananas zurückzuführen sei.

Nein, der Verursacher sei ein Enzym mit dem poetischen Namen Bromelin, auch Bromelain. Hört sich an wie die große dicke Schwester von Melanin, ist es aber nicht. Es ist eigentlich auch nicht poetisch, sondern proteolytisch, also der enzymatische Hydrolyse von Proteinen durch Peptidasen fähig, kommt in dieser Form eigentlich nur in der Ananas vor (andere Früchte haben aber ähnliche Enzyme), hat auch einige positive Eigenschaften wie Entzündungshemmung, und bewirkt – tataaa – die Zersetzung, also Verdauung von Eiweißen. Dient deshalb auch dem Zartmachen von Steaks.

Das hat was.

Wenn man also Ananas isst, dann wird man zuerst von der Ananas verdaut, bevor man dazu kommt, sie zu verdauen.

Man könnte quasi sagen, dass einem die Ananas in einem Akt triumphierender Rache, oder eben auch lustvollem gegenseitigem Fressen erst mal selbst was wegfrisst, bevor sie gefressen wird. Man quasi der Ananas als Ritual und Erweisung gegenseitigen Respektes erst mal einen Teil von sich selbst zum Fraß vorzuwerfen habe, bevor man sie selbst vertilgen könne.

Oh, wie geil.

(Dass mir jetzt hier aber ja keiner auf die Idee kommt, sich eine geschälte Ananas in … lassen wir das.)

Nebenbei sei dieses Enzym dafür verantwortlich, dass Ananaskuchen misslinge, weil es den Tortenguss am Festwerden hindere. Ananas aus der Dose weise dieses Verhalten nicht auf, weil das Bromelin durch das Pasteurisieren denaturiere und inaktiv werde. Selbiges passiere durch Magensäure, womit die Machtverhältnisse zwischen Mensch und Ananas geklärt wären, sei der Verzehr erst einmal gelungen. Womit auch auf biochemische Weise belegt wäre, dass der beste Platz für Obstkuchen im Magen ist.

Ein Leser schrieb mir, dass habe – anders als von mir geargwöhnt – mit Gentechnik gar nichts zu tun, sondern sei eine natürliche Funktion, die der Abwehr von Schädlingen, namentlich von Insektenlarven diene, die sich ihrerseits dann evolutionär aneignen mussten, Ananas zu meiden um nicht selbst verdaut zu werden. Die Ananas als heimlich fleischfressende Pflanze (obwohl: Man weiß ja nicht, ob sie das verdaute dann ausspuckt oder runterschluckt).

Gerade das erweckt aber meinen Argwohn. Denn nicht wenige Leser schrieben mir auch, dass sie ebenfalls beobachtet haben, dass der Effekt zunimmt und sie das früher so nicht kannten. Mag sein, dass man früher andere Sorten importierte oder die Früchte einfach länger gelagert waren, bis sie hier in den Laden kamen.

Meinen Argwohn erweckt das trotzdem. Denn gerade das Implantieren und verstärken natürlicher Schutzmechanismen gegen Schädlinge ist ja ein Ziel der Gentechnik. Es gab ja mal den Fall, dass Allergiker, die bisher kaum etwas essen konnten außer Soja (das bis dahin gar nicht allergen war), plötzlich auch Soja nicht mehr essen konnten, weil irgendein Idiot der Gen-Industrie da Schädlingsabwehrsequenzen der Paranuss eingebaut hatte. Nüsse sind aber hochallergen. Und so wurde Soja zwar resistenter gegen Schädlinge, für viele Allergiker aber ungenießbar.

Insofern drängt sich mir schon der Verdacht auf, dass irgendein Gentechniker auf die Idee käme, einfach den Bromelin-Gehalt zu erhöhen, um die Früchte resistenter gegen Schädlinge zu machen. Könnte man allerdings auch durch herkömmliche Züchtung erreichen.

Womöglich aber haben das Mutter Natur und ihre linkische Nichte Evolution auch selbst hingekriegt, denn durch die Industrialisierung des Obstanbaus fallen auch immer mehr Schädlinge und Krankheiten über die Pflanzen her (es heißt ja, dass es bald keine transportfähigen Bananen mehr gäbe) und sich die Pflanzen von selbst an härtere Bedingungen anpassen.

Ein Leser steigerte sich dabei gleich zu mechanischen Vergleichen:

Aber jetzt überlegen Sie mal, ich schätze, Sie sind etwa 50 Jahre alt, essen 4-5x am Tag, bewegen dazu den Mund pro Mahlzeit einige 100 Mal, rechnen wir der Einfachheit halber mit 1000x pro Tag. Das macht im Jahr 360.000, in 50 Jahren also 20 Millionen Mundbewegungen.

Angenommen weiterhin, Sie hätten mit dem 3D-Drucker eine Verschlußtür gedruckt, die 20 Millionen mal geöffnet und geschlossen worden wäre, wie dann das Material im Bewegungsbereich aussehen würde. Zumindest Risse, mehr oder weniger tief, wären dann da vorhanden, wenn das Material überhaupt so lange hält.

Und das ist genau auch meine Erfahrung mit frischen Ananas, die Dinger brennen gerade in den Mundwinkeln so, als ob sie Zitronen ausgelutscht hätten. Vielleicht hat das Bromelain als Eiweißspalter noch eine zusätzliche Funktion. Ich nehme eine Mischung derartiger Enzyme als Verdauungspillen, wenn mal wieder fetter Gänsebraten angesagt ist. Also, besser reife Ananas bevorzugen.

Ähm, ja. (Na, wenn der wüsste, wie oft und wie weit ich auch bei anderen Gelegenheiten als dem Essen das Maul aufgerissen habe… Aber so weit, dass man sich seine Körperersatzteile schon selbst auf dem 3D-Drucker drucken kann, sind wir noch nicht. Ich habe in meinem Bekanntenkreis allerdings einen, der sich für seinen 3D-Drucker so ein sündhaft teures medizinisches körpergeeignetes Filament beschafft hat, weil er Zahnersatz braucht, ihm die Preise der Zahntechniker als unverschämt hoch erscheinen, und er sich in den Kopf gesetzt hat, sich seine Zahnprothesen selbst zu designen und selbst auszudrucken. Ein Unterfangen, dessen Erfolgsaussichten ich nur als mäßig einschätze, es aber dennoch – oder gerade deshalb – interessiert verfolge)

Sagen wir es so: Deshalb esse ich beim Chinesen so gerne Ente süß-sauer, mit Ananas in der Soße. Jetzt kann ich wenigstens noch so tun, als hätte ich einen wissenschaftlichen Grund dafür.