Der Fussel
Diesen Fehler mache ich nie wieder.
Man sollte sich einfach nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen.
Ich war auf einer Veranstaltung.
Ich war im Gespräch mit einem Mann, der ein sehr helles, einfarbiges Sakko trug.
Irgendwann drehte er sich mal um und ich sah ihn von hinten, da passierte es: Er hatte einen Fussel auf dem Rücken, auf dem Stoff seines Sakkos.
Nicht schlimm. Kein Frauenhaar der Geliebten oder so etwas, woran die Gattin hätte verdacht schöpfen können. Ein Stück schwarzen Wollfadens, so geschätzte 10 bis 12 cm lang, wie es in jedem Wintermantel als Produktionsrückstand vorkommen kann.
Irgendwie war dieser Faden optisch einfach sehr störend, nur er selbst konnte es ja sehen.
Dann beging ich meinen Fehler und sagte ihm „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie haben einen optisch unvorteilhaften Fussel auf dem Rücken.“ Ich dachte, man muss den Leuten das ja sagen. Ich freue mich ja auch, wenn mir das jemand sagt.
Er reagierte, indem er mir hochöffentlich die Genehmigung erteilte, ihn zu berühren und den Fussel zu entfernen. Heutzutage ist das ja enorm wichtig. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er sein Sakko auszieht und das selbst entfernt. Also kam ich in Zugzwang und pflückte ihm mit spitzen Fingern und einem beherzten Griff den Faden vom Rücken, die Optik des Sakkos war wieder hergestellt.
Als zeigte ich ihm die Jagdbeute und hielt ihm den Fussel hin, das Wollfädchen. Nicht klebrig oder so. Einfach nur ein schwarzes Stück Wollfaden.
Aber, ach.
Er wollte es nicht haben. Er bedankte sich nur und lies es damit bewenden.
Jetzt stand ich da. Mit dem Faden zwischen den Fingern.
Was damit machen?
Einfach fallen lassen? Geht nicht. Heller Teppichboden, sähe sofort blöd aus, wenn jemand sieht, dass ich da Dreck fallen lasse. Geht gar nicht.
Einstecken? Nein. Dann habe ich das Ding in der Tasche und ich mag auch nicht die Textilien fremder Leute in meiner Tasche haben.
Mülleimer? Nirgends ein Mülleimer.
Ach, sie haben eine Kaffeeküche. Da muss es einen Mülleimer geben.
Nein, kein Mülleimer. Nur ein Schirmständer. Nicht mal in den Türen unter der Spüle, wo doch normalerweise ein Mülleimer befestigt ist. Wer hat denn eine Küche ohne Mülleimer?
Toilette? Nein, Warteschlange davor.
Verdammt noch eins, jetzt habe ich diesen blöden Faden und laufe rum und weiß nicht, wohin damit. Ich kam mir vor wie Loriot mit der Nudel. Ich werd den verdammten Faden nicht los, und dabei klebt er nicht einmal. Aber egal, wie ich es anstelle, immer guckt irgendwer. Man kann ihm nicht dem nächsten anhängen. Und in einem sozial kontrollierten Umfeld, in dem man sich nicht danebenbenehmen kann, kann man ihn auch nicht einfach fallen lassen. Oder in den Schirmständer werfen. Oder in die Besteckschublade.
Und ich konnte mir den Faden auch nicht einfach selbst anhängen, damit der Nächste denselben Fehler macht und mich darauf hinweist, denn ich hatte einen schwarzen Pullover an, man hätte den Faden nicht gesehen. Vielleicht den Faden auf dem eigenen Pullover deponieren bis nach der Veranstaltung?
Ich habe dann doch einen korrekten Entsorgungsweg gefunden, aber es war klar: Ich hätte nichts sagen sollen. Ich hätte diesen Faden einfach ein Problem anderer Leute lassen sollen.
Ich werde mich nicht mehr in fremde Fusseln einmischen.