Ansichten eines Informatikers

Nara

Hadmut
20.5.2025 14:41

Kennt Ihr den Spruch „Ich glaub’, ich steh’ im Wald, und die Rehlein sagen Du zu mir“?

Es waren Hirsche. Und es war auch nicht im Wald.

Viele Leser hatten mir einen Tagesausflug nach Nara empfohlen. Den hatte ich deshalb für heute eingeplant, und heute war auch endlich mal wieder gutes Wetter (zu gutes), also dachte ich, das passt. Gestern abend noch ein bisschen Vorbereitung getrieben, alles, was ich besuchen will, in die Landkarte eingetragen, bisschen was gelesen, was man so in Nara, wie und warum überhaupt, und dachte, ich fahre da einfach mal los. Ist relativ einfach, ab Namba fährt eine Direktverbindung.

Lacher zwischendrin: Ich steh’ am japanischen Bahnhof und ein Zug hatte 7 Minuten Verspätung, was die nächsten auch verzögerte. Meiner, der übernächste, hatte deshalb noch 2 Minuten Verspätung. Ich dachte noch, das kann ich unmöglich im Blog erwähnen, das glaubt mir kein Mensch. Die behaupten dann, ich sei gar nicht in Japan, ich tue nur so, weil ich Dinge behaupte, die unmöglich sind.

Der Punkt ist eben: Es interessiert hier keine Sau, ob ein Zug Verspätung hat. Denn es gibt zwar einen präzisen Fahrplan, der Bahnmitarbeiter am Bahnsteig hatte nämlich einen laminierten in der Tasche, als ich ihn fragte, welchen Zug ich am besten nach Nara nehme (war unklar, ob das immer die Endhaltestelle ist oder die ander heißen, in der Rückrichtung haben sie da Problem nämlich und deshalb am Bahnsteig große Aufkleber auch auf dem Boden, welcher Zug auch in Osaka-Namba hält), und der hat darauf nachgeschaut. Es gibt einen präzisen Zeitplan, ich habe ihn gesehen. Aber: Den hängen sie nicht groß raus, der hängt da nirgends an der Wand. Weil die Züge nämlich alle paar Minuten fahren, ist das wie U-Bahn-Fahren: Da achtet man auch nicht auf die Zeit, sondern stellt sich einfach an den Bahnsteig und nimmt halt die nächste, die kommt. Außer Bloggern interessiert das schlicht niemanden.

Gut. Ich kam also mit einem Zug, der bei der Abfahrt 2 Minuten Verspätung hatte, und von dem ich nicht weiß, ob und wieviel Verspätung er am Ziel hatte, weil ich keine Ahnung habe, wann er denn hätte da sein sollen, das nämlich auch auf dem Plan des Mitarbeiters nicht steht, die sich nämlich höchstens für die Abfahrten interessieren, und mir letztlich völlig egal ist. Weil ich aus Zeitgründen auf das Hotelfrühstück verzichtet und inzwischen Hunger entwickelt hatte, habe ich mir bei Lawson was zu essen und zu trinken gekauft, auf dem Bahnhofsvorplatz schnabuliert, und wusste dann nicht, wohin mit dem Abfall, der Plastikverpackung. Es gibt nämlich auch da keine Mülleimer, und das zu tun, was mancherorts Aufkleber befehlen, nämlich seinen Müll nach hause zu tragen, und damit den ganzen Tag mit mir herumzutragen, durch Tempel, Schreine und Museen, bin ich bei Lawson wieder rein und habe den Typen, der mir das verkauft hat, gefragt, was man damit jetzt macht, als ob ich es nicht wüsste und Tourist aus Deutschland wäre. Die haben den Abfall dann wieder zurückgenommen.

Ich hatte früher schon und auch gestern abend gelesen, dass Nara bekannt sei für seine zutraulichen Hirsche. Viele, vor allem Deutsche, halten sie für Rehe, und sie sehen auch, vom Geweih abgesehen, Rehen sehr ähnlich, das Geweih sieht aus, als sei es aus Plastik (ist es aber nicht, aber wenigstens stumpf), und sind auch nur so groß wie Rehe, gehen einem ungefähr, manche bis zur Hüfte, manche bis zur Brust oder Schulter. Aber es sind Hirsche. Sika-Hirsche.

Ich hatte mir da in meiner Landkarte extra das Gehege markiert, weil ich mir das so vorgestellt hatte, dass es da irgendwo ein Gehege gibt, so mit Zaun außenrum, und es da 10 oder 20 Hirsche gibt, die an den Menschen gewöhnt sind und gefüttert werden können.

Die Viecher sind nicht zutraulich.

Die Viecher sind aufdringlich.

Und es sind auch nicht 10 oder 20, sondern nach meiner Schätzung nach dem heutigen Tage mindestens 500, wie ich inzwischen gelesen habe, um die 1000.

Und die sind nicht in einem Gehege, die laufen frei in der Stadt herum und stellen Touristen nach.

Ich dachte zuerst, die seien ausgebrochen, aber nein: Die sind nicht eingehegt. Das sind wilde Tiere, die hier aber aus religiösen Gründen als heilig gelten, deshalb nicht vertrieben werden, und die sich darin eingerichtet haben, in der Stadt und an den Touristenhotspots rumzulungern und von Touristen Futter zu erbetteln – oder erpressen.

Die Viecher sehen nett aus, lassen sich ansatzweise auch streicheln, können aber, wie ich auf Warntafeln und hinterher im Netz gelesen habe, auch gefährlich werden, und zwar ab Mai die Weibchen, wenn sie Junge haben (die man auf keinen Fall anfassen soll, weil etweder die Hirschmutti dann das Junge verstößt oder aber auf den Gedanken kommt, zu intervenieren, und es soll jedes Jahr ein paar Hundert Verletzte, teils schwer. Es gibt sogar eine offizielle Erklärseite der Stadt. Und im Herbst sind dann die Männchen in der Brunft und aggressiv.

Die friedlicheren oder, sagen wir mal, passiveren unter den Hirschen liegen in den Parks und entlang der Wege zu den Attraktionen am Wegesrand und warten darauf, dass sich Touristen mit ihnen abgeben (was sie exzessiv auch tun), die aggressiveren aber gehen kurz hinter dem Bahnhof, noch in der Innenstadt, in Scharen auf die Touristen los – und wollen was zu fressen haben.

Dummerweise geben die Touristen den Hirschen auch noch alles mögliche, obwohl man sie offiziell nur mit den Hirschkeksen (spezielle Reis-Cracker, die da verkauft werden) füttern soll, die da verkauft werden, und die für sie gesundheitlich unbedenklich sind und die die Hirsche richtig lieben. Die Hirsche werden da – obwohl wild – regelrecht darauf abgerichtet, dass sie nur intensiv genug betteln – oder nötigen, erpressen – müssen, um an Futter zu kommen.

Manche der Tiere stellen sich einem in den Weg, stupsen einen an, ziehen einen an den Klamotten. Ich habe eine Frau gesehen, die sich mit dem Rücken an einen Baum drängte, weil sie von drei Hirschen bedrängt wurde – nachdem sie ihnen irgendwelche Süßigkeiten gegeben hatte. Die wollten dann mehr.

Ich habe sogar mehrmals beobachtet, dass sich die Hirsche japanisch verbeugen – auch vor mir. Die haben gelernt, dass wenn sie sich vor einem verbeugen, manche der Menschen (nämlich die Japaner) total entzückt sind und es Belohnungsfutter gibt. Ich habe Japaner gesehen, die davon so hin und weg sind, dass sie sich ihrerseits vor den Hirschen verbeugen und das dann in regelrechte Verbeugungsorgien ausartet.

Einige dieser Hirsche wollten natürlich auch was von mir (und ich war auf einmal richtig froh, dass ich den Abfall vom Frühstück nicht mehr bei mir hatte, sondern der Typ bei Lawson mir den abgenommen hatte), haben aber relativ schnell aufgegeben, weil bei mir nichts nach Essen roch.

Wie ich das so rumfotografiere, merke ich eine Bewegung am Rucksack. Ich dachte, ich wäre wieder mal von anderen Leuten gestreift worden, wie das ständig passiert, aber nein: Zwei Hirsche hatten sich von hinten an mich angeschlichen. Ich habe am Rucksack, wie bei fast jedem Rucksack, die Zurr-Riemen der Schultergurte runterhängen, und außerdem den Hüftgurt nur sehr selten geschlossen, meistens nur so runterhängen. Und auf jeder Seite hatte sich ein Hirsch in je einen Gurt verbissen.

Das hätte ich mir bis heute vormittag nicht vorstellen können, dass ich mich jemals mit zwei Hirschen um meinen Rucksack streiten würde. Zumal ich bisher auch nur die deutschen Hirsche und die Elche kannte, und mit beiden würde ich mich nicht anlegen. Einen Sika-Hirsch, jedenfalls die Männchen, könnte man wohl noch abwehren, weil das Geweih einen prima Haltegriff ergibt, mit dem man das Vieh auf Distanz halten kann, damit er einen nicht beißen kann. Aber gleich zwei?

Mir ist auch nicht klar, ob die Gefallen an den Gurten gefunden haben (über den Tag hatten nämlich nochmal zwei versucht, nach den Gurten zu beißen), oder ob die einfach nur gelernt haben, dass man von Menschen Futter als Lösegeld erpressen kann, wenn man sie an ihren teuren Sachen zieht, aber ich musste ziemlich fest ziehen, und ziemlich laut werden, bis der erste den Gurt wieder freigab. Der zweite hat dann von selbst aufgegeben, und beiden war anzumerken, dass das nicht so gelaufen war, wie sie das erwartet hatten. Das hat (geringfügige) Spuren hinterlassen. Mistvieh!

Man muss es positiv sehen.

Jetzt habe ich einen von echten japanischen Hirschen weichgekauten Fotorucksack.

Das hat nicht jeder.

Manche würden ein Vermögen dafür ausgeben.

Vielleicht kann man den über einen Strohmann Bares für Rares andrehen: Der Original-Rucksack des Bloggers Danisch, den er 2025 in Japan getragen hat, um ihn von echten japanischen heiligen Hirschen am Tōdai-ji-Tempel mit der größten Buddha-Statue Japans (Weltkulturerbe) unweit des Kasuga-Kaisha-Schreins in einer Zeremonie unvergleichlich geschmeidig kauen zu lassen.

Ansonsten wie gehabt:

Ein Meer aus Touristen, endlose Wiederholungen von Handy-Foto hier, Handy-Foto da, alle das gleiche, und total beliebt: Ich vor irgendwas, mein Frau vor irgendwas, ich zusammen mit meiner Frau vor irgendwas. Selfies bis zum Kotzen.

Es scheint, als sie die Kamerasoftware der Handys genau dafür optimiert worden, denn die sehen dann auch alle gleich aus.

Mal vor Buddha. Mal vor dem Schrein. Und: In jeder Variante mit den Hirschen. Hirsch umarmen, Hirsch küssen, Hirsch streichen, Hirsch füttern.

Und ich hatte den Eindruck, dass die Hirsche auch das gelernt haben: Bei mir haben sie sich nämlich fast immer weggedreht, wenn sie meine Kamera gesehen haben. Bei Leuten, von denen sie Hirschkekse bekommen haben, halten sie dagegen still und gucken in die Kamera. Hirsche sind auch Dienstleister, die wollen nach Tarif entlohnt werden.

Und so bestand der Tag dann weitgehend aus nervigen Touristen und aufdringlichen Hirschen, beides in rauhen Mengen, dazu noch einige Museen, in denen Fotografieren – mehr oder weniger – verboten war. Ich war am Ende des Nara-Besuchs noch in der Standardausstellung des Nationalmuseums, wo sie ganz viele Buddha- und andere Statuen haben, und bei jeder steht daran, ob man sie fotografieren darf oder nicht.

Ei, wieso das?

Sie haben eine Erklärtafel aufgehängt. Sogar mit englischem Text. In Japan befindet sich ein großer Teil der Kulturgüter in Privatbesitz. Viele Privatbesitzer stellen diese den Museen zur Verfügung, aber nur unter Bedingungen oder mit Eigentumsverfügungen, weil das in Japan anscheinend der Eigentümer entscheiden kann, ob man etwas fotografieren darf, und deshalb darf man nur die Ausstellungsstücke fotografieren, die entweder dem Museum selbst gehören, oder wenn – was kaum vorkommt – der Eigentümer es gestattet hat. (Es gibt auch Dinge, die lichtempfindlich sind, und ausbleichen, und viele Leute sind zu doof oder zu ignorant, den Blitz an der Kamera oder am Handy abzuschalten. Es hingen an manchen Stellen auch deutliche Schilder, dass man den Hut abzunehmen und die Klappe zu halten hat, und besonders Europäer fallen damit auf, dass sie das ignorieren oder gar nicht wahrnehmen und sich aufführen wie die Axt im Walde.) Deshalb kann es vorkommen, dass man in einen Raum mit 10 Statuen kommt, und die Schilder zeigen, dass man nur eine davon fotografieren darf.

Ich habe dann aber doch noch ein paar schöne Stellen gefunden, ein paar Schreine und Laternen im Wald und einen Pavillon am See, man muss nur etwas abseits von den Haupttouristenpfaden suchen.

Beispielsweise in den Wald, den Weg entlang den Berg hoch. Je mehr man da steigen muss, desto weniger Touristen gibt es da. Da saß dann tatsächlich eine vor einem Schrein und meditierte.

Ein anstrengender Tag, denn die Sonne schien – trotz eines diesigen und bewölkten Himmels, und mir lief wieder die Brühe vom Rucksack auf dem Rücken. Rucksack auf durchgeschwitztem nassem Rücken müffelt viel schneller. Wieder ein Tag, an dem ich dann abends mal wieder durch war und eine strenge Duftnote hatte. Das hebt den Preis bei Bares für Rares.

Aber heute nach Hirsch, nicht nach Iltis. Das macht die Sache authentisch.