Fahrenheits Nullpunkt
Jetzt geht das mit der Temperaturmessung wieder los.
Irgendwie habe ich kein Glück, wenn ich über Thermometer und Temperaturskalen schreibe.
Vor einiger Zeit ist ja schon eine deutschsprachige feministische Britenemanze über mich hergefallen, weil ich in Zweifel gezogen hatte, dass man früher die Temperaturen überhaupt so genau messen konnte und auch tatsächlich so genau gemessen hat, um die heutigen Aussagen über Klimaerwärmung zu halten. Sie kam dann damit an, dass da irgendwer im Labor (unter Laborbedingungen unter dem Mikroskop und mit Nonius) das Thermometer auf Tausendstel Millimeter genau habe ablesen können. Was ich schon deshalb für schräg halte, weil das nur unter Laborbedingungen und nicht auf dem Berg oder im Wald funktioniert, und die, die damals die Wettertemperaturen abgelesen haben, ganz sicher nicht wussten, dass wir die mal auf Hundertstel Grad genau haben wollen. Ganz abgesehen davon, dass es damals keine elektrischen Taschenlampen gab und man bei Dunkelheit mit (heißen) Kerze schaue musste, und man die Flüssigkeit in einem Thermometer unmöglich so gleichmäßig auf Temperatur bringen kann, dass eine so genau Messung möglich ist, und es sich auch im Labor bestenfalls um eine relative Genauigkeit gehandelt haben kann. Manche Leute leben in einem Präzisionswahn und halten alles, was ihnen in den Kram passt für „genau“. Wir haben damals im Physikunterricht schon gelernt, dass es beim Ablesen schon auf die Größe der Person ankommt, weil je nach Flüssigkeit die Oberfläche der Flüssigkeit durch den Kapilareffekt konkav oder konvex geformt ist und es deshalb darauf ankommt, unter welchem Winkel man drauf schaut. Glaubt irgendwer im Ernst, dass man vor 100 oder 150 Jahren bei Temperaturmessungen berücksichtigt hat, wie groß derjenige ist, der sie abliest? Und dass man erfahrene Laborassistenten zum Ablesen hingeschickt hat?
Was ist denn, wenn das Thermometer 18,5°C zeigt, und mal einer von der „Das Glas ist halb voll“ und einmal einer von der „Das Glas ist halb leer“-Fraktion vorbeikommt und abliest?
Neigen Leute, die gerade frieren oder schwitzen dazu, die abgelesene Temperatur eher ab- oder aufzurunden?
Komischerweise verfolgen Grüne die Strategie, in Städten Bäume pflanzen zu wollen, weil Grünzeug in der Stadt die Temperatur deutlich senke (was stimmt). Sagt man ihnen aber, dass Messungen nicht mehr vergleichbar sind, weil die Temperaturmessstellen vor 100 Jahren noch von Wald und Wiese umgeben waren und jetzt von einem zubetonierten Industriegebiet, dann wischen sie das völlig weg.
Jetzt schreibt mir ein Leser
“Leider war das genauso wie bei Fahrenheit, der als Nullpunkt seiner Temperaturskala die tiefste Temperatur des strengen Winters 1708/1709 in seiner Heimatstadt Danzig wählte – woher sollen andere wissen, wie kalt es im Winter 1708/1709 in Danzig war, und was macht man, wenn es woanders kälter wird?”
Das ist ein Mythos.
Fahrenheit benutzte 3 Referenzpunkte:
– Kältemischung (Eis, Wasser und Salmiak (Ammoniumchlorid). Diese Mischung bildet ein Kältemischung, die ziemlich stabil bei ca. –17,8 °
– Gefrierpunkt von Wasser
– Körpertemperatur
Alle drei sind mehr oder minder reproduzierbar.
Also habe ich vergangene Nacht – nachts um vier – am Rechner gesessen und nachgelesen. Ist das wirklich ein Mythos?
So weit ich herausgefunden habe, nein.
Die Seite chemie.de (hört sich fachkompetent an) schreibt:
Fahrenheit entwickelte seine Temperaturskala nach einem Besuch bei dem dänischen Astronomen Ole Rømer in Kopenhagen. Rømer entwickelte das erste Thermometer, bei dem er für die Kalibrierung zwei Fixpunkte verwendete. In der Rømer-Skala liegt der Gefrierpunkt des Wassers bei 7,5 Grad, der Siedepunkt bei 60 Grad und die durchschnittliche Körpertemperatur eines Menschen damit bei 22,5 Grad auf Rømers Einteilung.
Fahrenheit wählte als Nullpunkt seiner Temperaturskala die tiefste Temperatur des strengen Winters 1708/1709 in seiner Heimatstadt Danzig. Mit einer Mischung aus „Eis, Wasser und Salmiak oder Seesalz“ (Kältemischung) konnte er danach den Nullpunkt bzw. ersten Fixpunkt wieder herstellen (−17,8 °C). Fahrenheit wollte dadurch negative Temperaturen vermeiden, wie sie bei der Rømer-Skala schon im normalen Alltagsgebrauch auftraten.
Interessanter, aber viel länger zu lesen, ist der Aufsatz „Daniel Gabriel Fahrenheit. Sein Leben und Wirken.“ von Albert Momber aus dem Jahr 1890 in der Zeitschrift Schriften der Naturforschenden Gesellschaft Danzig. Was man als Informatiker eben nachts um vier so liest.
Fahrenheit (1686-1736) hat sehr viel mit Temperaturen und Kälte experimentiert. Damals war man noch damit beschäftigt, das Wesen von Temperaturen und Aggregatzuständen überhaupt zu verstehen. So wird beschrieben, dass Fahrenheit eine unterkühlte Flüssigkeit eine Treppe hochtragen wollte und dabei stolperte, weil er eine Stufe verfehlte, und dabei beobeachtete, dass die Flüssigkeit schlagartig gefror. Fahrenheit und andere Leute wie Ole Rømer und René-Antoine Ferchault de Réaumur erforschten damals, was es mit Temperaturen ihrem Wesen nach auf sich hatte und wie man sie messen kann. Und soweit ich aus den Texten ersehen konnte, kannten und besuchten die sich auch. Damals machte man noch Experimente für solche neuen Erkenntnisse, dass die Temperatur in siedendem Wasser erst einmal nicht mehr weiter steigt, diese Temperatur aber vom Luftdruck abhängt.
Und weil man damals noch nicht elektrisch Kälte herstellen konnte, und noch erforschte, wie man das chemisch machen kann, hatten diese Forscher damals eine hohe Affinität zu besonders kalten Wintern, weil sie da Kälte für ihre Experimente und Messungen bekamen. Und das wird nicht nur von Momber, sondern auch von Fahrenheit selbst beschrieben, dass er da Experimente in kalten Winternächten unternahm und deshalb diese kalten Winter und Nächte auch suchte.
Und ebenfalls von beiden, Fahrenheit und Momber, wird erwähnt und beschrieben, dass Fahrenheit auch damit experimentierte, wie man Kälte künstlich, nämlich chemisch-physikalisch herstellt, indem man Mischungen aus Wasser, Schnee und Salzen oder Säuren zusammenbraut (Kältemischungen).
Und bekannt ist auch, dass es im Winter 1708/09 in Danzig besonders kalt war.
Momber äußert allerdings Zweifel daran, dass Fahrenheit, obwohl aus Danzig, in diesem Winter überhaupt in Danzig war, und folgert das aus Reisen und einem Pestausbruch.
Andererseits ist es für die Geschichte ja auch nicht zwingend, dass Fahrenheit da selbst gemessen hat. Der wird ja Assistenten, Freunde, Bekannte gehabt haben, die auch in seiner Abwesenheit mit seinem Thermometer weiter gemessen und aufgezeichnet haben. Vor allem dann, wenn man, wie Fahrenheit, auf der Suche nach einem plausiblen Nullpunkt war, wird er gerade dann, wenn er selbst abwesend war, mit Sicherheit Mitarbeiter, Nachbarn, Verwandte, wen auch immer, beauftragt haben, regelmäßig Temperaturablesungen an seinem Thermometer zu machen und aufzuschreiben.
Plausibilität
Offenbar weiß man es gar nicht so genau, wie der zu seiner Skala kam, denn nach den Schriften spielten beide, saukalte Winter und chemische Kältemischungen, dabei eine wichtige Rolle.
Dafür, dass die kälteste Nacht in Danzig Fahrenheit mindestens die Motivation für seine Skala gegeben hat, liegt im Zweck. Denn Fahrenheit wollte eine praktikable und anwendungsbezogene Skala, die den Lebensbereich möglichst gut abdeckt, und wollte deshalb vermeiden, dass man negative Temperaturwerte messen kann oder muss. Diesen Zweck würde er aber mit einer Kältemischung nicht erreichen, denn es gibt auch kältere Kältemischungen, und Labormessungen waren ja nicht der Zweck seiner Anstrengungen, sondern Messungen im realen Leben.
Warum also sollte er sich dabei an einer Kältemischung orientieren, die ja kein normaler Mensch anrührt, und warum dann ausgerechnet an dieser?
Das ganze Ding ergibt nur einen plausiblen Sinn, wenn man diese kälteste Nacht in Danzig als beobachtete und dokumentierte Naturvorgabe betrachtet, selbst wenn man wie Momber annimmt, dass Fahrenheit in diesem Winter nicht selbst in Danzig war, ihm aber über Messungen berichtet wurde, denn das ist ja die „saukalt, kälter wird’s nicht“-Motivation.
Dass sich Fahrenheit hinterher damit beschäftigt hat, eben diese Temperatur zu reproduzieren, um auf seinem Thermometer dieselbe Anzeige zu wiederholen, ist physikalisch und ingenieurmäßig verständlich und naheliegend. Denn über die Motivation, das als „kälter wird es in der Natur nicht“ anzusehen, hinaus, muss er die Temperatur ja künstlich herstellen können, um Thermometer zu kalibrieren.
Dass Fahrenheit diese Temperatur mit Wasser, Eis (sie verwendeten Schnee) und Salmiak künstlich hergestellt hat, beantwortet ja nur die Frage, wie er diese Temperatur reproduziert hat, aber nicht, warum er ausgerechnet diese Temperatur wählte und im Maßstab als den Nullwert setzte.
Die ganze Story ergibt vor dem Hintergrund, dass er negative Messwerte nicht mochte und unbedingt vermeiden, aber eine realitätsbezogene praktikable Skala festlegen wollte, nur dann einen geschlossenen Sinn, wenn die kälteste Nacht in Danzig wirklich die Motivation und der Anlass für diese Skala waren, und zwar auch dann, wenn er selbst in diesem Winter nicht in Danzig war. Denn genau dafür hat er das Thermometer ja gebaut, dass man die Temperatur nicht selbst fühlen muss, sondern jemand sie messen, ablesen, aufschreiben kann.
Sicherlich wird er sich dann damit beschäftigt haben, wie man eine Temperatur zuverlässig reproduzieren kann, die so kalt ist, dass selbst die kälteste Nacht von Danzig nicht zu negativen Messwerten führt, und auf die Kältemischung gekommen sein.
Ergebnis
Soweit ich nun vergangene Nacht (in der es im Gegensatz zu dieser Winternacht in Danzig nicht kalt, sondern warm war) durch Nachlesen und Nachdenken herausfinden konnte, ist das keineswegs ein Mythos. Die kälteste Nacht in Danzig dürfte wirklich der Grund für die Festlegung des Nullpunktes auf seiner Skala gewesen sein.
Aber:
Dass er das später mit einer Kältemischung reproduzierbar gemacht hat, spricht ja nicht dagegen, sondern nur für seine wissenschaftlich-ingenieurmäßige Sorgfalt.
Man muss dabei aber eben zwischen Motivation und Methode unterscheiden. Der Gedanke und das Ziel, dass die Skala so beschaffen sein muss, dass nicht einmal die empirisch saukalte Nacht von Danzig zu negativen Messwerten geführt hätte, war sicherlich und nachvollziehbar ausschlaggebend dafür. Das war mit Sicherheit eine Anforderung im Pflichtenheft für seine Skala.
Ich halte es also keineswegs für einen Mythos, sondern für den Teil der Geschichte, der eben gerne erzählt wird und deshalb anekdotisch wirkt, dass der Nullpunkt in der Fahrenheitskala nach einer kalten Nacht in Danzig gewählt wurde. Nicht als Messpunkt, sondern als Vorgabe, dass auch diese Nacht keine negativen Messwerte liefern durfte.