Geisterbahn Berlin
Von Horror und Kulturlag.
Wenn man über mehrere Zeitzonen reist, hat man normalerweise Jetlag, die Störung der inneren Uhr, für ein paar Tage, bis die sich umgestellt hat.
Obwohl das bei mir immer so ist, dass ich kaum Jetlag habe, wenn ich nach Osten reise, also in vorauseilende Zeitzonen, und stärker, wenn ich nach Westen reise, also nacheilende Zeitzonen, hatte ich mich gewundert, warum ich bei der Ankunft in Japan gar keinen Jetlag verspürte und meine innere Uhr und mein Zeitgefühl umstellen konnte wie die Armbanduhr. Jetzt auf dem Rückweg müsste ich eigentlich übel Jetlag haben, habe ich bisher aber auch nicht, ich bin nur ziemlich müde, weil ich Flugzeug trotz der extra-langen Nacht im Sitzen nur schlecht und kaum geschlafen habe. Das Zeitgefühl stimmt noch nicht so genau, ich wusste zwar, dass es Abend ist, aber ich war etwas überrascht, dass es schon 19:20 war und hätte das so für 18:30 gehalten.
Dafür leide ich gerade unter etwas anderem: Kulturlag. Ich leide gerade unter Kulturumstellung.
Als ich gestern in Osaka an den Flughafen kam, hatte ich wieder das Gefühl, das ich seit über 30 Jahren kenne und schon im Blog beschrieben habe: Es ist peinlich, wieder unter Deutschen zu sein, weil die einen so flegelhaften, rotzigen, lauten Ton an sich haben und sich nicht benehmen können. Ich habe schon oft meinen Reisepass versteckt und nur Englisch gesprochen, damit man nicht merkt, dass ich Deutscher bin, weil es manchmal zu peinlich ist. Diesen Effekt habe ich, wenn auch nicht so stark, an beiden Flughäfen bemerkt.
Beim Abflug in Osaka saß ich in einer Mittel-Dreier-Reihe am Gang, neben mir ein älteres deutsches Ehepaar. Ihn habe ich nicht gehört, er wurde von der anderen Seite bedient, aber sie, die in der Mitte saß, von meiner Seite. Die Frau kannte kein Bitte und kein Danke, keine ganzen Sätze. Obwohl sie erkennbar Englisch konnte und zum Beispiel die Erklärungen der Cabin Crew gut verstand, bellte sie auf die Frage, was sie essen und trinken wollte, immer nur in unsäglichem Ton und mit heruntergezogenen Mundwinkeln und verkniffenem Gesicht „Chicken!“ und „Water!“. Extrem unhöflich nach asiatischen Maßstäben.
Auch ich hatte Chicken gewählt, es aber im ganzen Satz in höflich und mit „please“ gesagt. Und wie das in der Economy-Class eben so ist, bekommt man so ein kleines Tablett mit zwei kleinen Schüsselchen Salätchen und Nachtischchen, ein zerknautschtes Brötchenchen, und dazu wird einem dann, je nach Wahl, so eine erhitzte Futterkartusche mit Alufoliendeckel dazugelegt. Ich hatte also die Alufolie abgewickelt und wollte losfuttern – als ich das ganz dringende Gefühl hatte, dass hier etwas nicht stimmt. Irgendwas stimmt hier nicht, irgendwas ist falsch. Aber was?
Ich kam drauf. Ich hatte keine Stäbchen in der Hand, wie die letzten dreieinhalb Wochen, sondern eine Gabel in der Rechten. Damit kann man nicht gut essen, weil man ja nur reinstechen und abbeißen könnte, was bei Gabeln aber irgendwie schlecht erzogen ist. Ich habe ernsthaft überlegen müssen, wie ich jetzt das Huhn esse. Hmmm. Irgendwas mit M. Ach ja, das war doch was. Messer. Ich habe die Serviette weiter ausgewickelt und darin tatsächlich nicht nur einen Löffel, sondern auch ein Messer gefunden. Und dann ernstlich einen Moment überlegen müssen: Wie war das nochmal? Die Gabel links, das Messer rechts. Ich habe ernsthaft überlegen müssen, wie man mit Messer und Gabel isst.
Flughafen BER. Gepäcktrolley nur gegen Pfandmünze wie beim Einkaufswagen. Wo man aber eine passende Münze herhaben soll, wenn man gerade aus dem Flieger gestiegen und aus dem Außer-EU-Ausland kam, erklären sie nicht. In Doha stehen die einfach so rum, kann man sich einfach nehmen. In Deutschland geht nichts ohne Pfandmünze.
Schließlich mit Flieger und Zug angekommen am Ostbahnhof. Es fällt mir auf, wie dreckig und heruntergekommen alles ist, dass es irgendwo nach altem Urin stinkt.
Ich fahre mit dem Bus weiter. Ich will am Ziel aussteigen, habe aber zwei schwere Koffer, einen links und einen rechts. Und benötige die gesamte Breite der hinteren Bustür. In Japan (und auch in Dubai) ist das üblich, dass bei Verkehrsmitteln, die, die einstiegen wollen, links und rechts warten, bis die, die rauswollen, in der Mitte herausgegangen sind. In Berlin läuft es anders, da versuchen die, die einsteigen, jeder der Erste zu sein und alle, die aussteigen wollen, über den Haufen zu rennen. Ich hatte gerade die Koffer ergriffen und wollte raus, da steht mir so eine alte Schrapnelle gegenüber, genau in der Mitte des Ausgangs und greift (aus ihrer Sicht) nach vorne, um sofort einzusteigen. Keine Chance für mich, an der vorbeizukommen. „DARF ICH BITTE ZUERST AUSSTEIGEN!?“ Sie ist beleidigt. Sie habe sich ja nur festgehalten und sonst „nüscht“ gemacht. Dass ich aber nicht rauskomme, wenn sie genau vor dem Ausgang steh, und auch nicht an ihr vorbei, wenn sie sich dabei noch mit einer Hand am Griff an der Seite festhält, kapiert sie nicht. Frauen und räumliches Vorstellungsvermögen, die Sache mit der Bewegungsprognose und Kollisionserkennung. Sie kapiert auch nicht, dass es um „Geh mal bitte aus dem Weg, damit ich raus kann“, geht. Alles hat zu weichen, wenn sie kommt, um „nüscht“ zu tun.
Mein Kühlschrank war natürlich leer, nichts Frisches zu essen mehr da, klar, nach einem Monat Abwesenheit. Also war ich eben im Supermarkt.
Obwohl ich diesen Supermarkt seit über 10 Jahren besuche, wurde das eben wie eine Fahrt mit der Geisterbahn, hart am Horror.
Vor dem Eingang jede Menge Müll, der herumliegt, weil die Leute alles fallen oder im Einkaufswagen liegen lassen.
Leute, die sich nicht waschen und mindestens streng riechen. Um nicht zu sagen, stinken.
Jeder steht jedem im Weg. Jeder platziert seinen Einkaufswagen grundsätzlich an der engsten Stelle, wo am wenigsten Platz ist.
Jeder so dieses „Ich zuerst, und dann lange nichts“. Selbstherrliches Stolzieren. Die Leute drängeln, blockieren, Vielen sieht man an, dass sie sich für wichtiger als alle anderen halten, hochnäsig.
Der Supermarkt das, was man im Englischen „a mess“ nennt: Jede Menge aufgerissene Kartons. Alles kreuz und quer.
Draußen stolziert einer rum, so rund wie hoch, Rentner-Typ, Gesichtsausdruck der Sorte „Verachte alles und jeden, nur ich bin toll“, der seinen Einkaufswagen mit einer Geste der Geringschätzigkeit zurück gibt: Kleiner Einkaufswagen zu den großen, weil er zu faul ist, sich bis zur Reihe mit den Kleinen zu bewegen. Im Wagen zurückgelassene Abfälle, sollen sich doch andere darum kümmern.
Man merkt auf einmal, wie unzivilisiert und eingebildet Deutschland ist.