Was machen wir ohne China-Mikroskope?
Ich habe mich gerade sehr gefreut.
Die Frage ist: Wie lange noch? [Nachtrag 2]
Ich bin gerade dabei, meinen Videokram etwas zu ergänzen, und hatte mir schon vor einiger Zeit aus China so kleine Handmikroskope bestellt, die eine USB-Kamera und LED-Lampen eingebaut haben und so um die 10 Euro kosten. Ich hatte mir vor vielen Jahren schon mal so ein Ding gekauft, es damals eigentlich für billiges Spielzeug gehalten, was es letztlich auch ist, weil aus billigstem Plastik, und war dennoch damals schon über die erstaunlich hohe Bildqualität verblüfft, die zwar nicht sehr echtfarbig ist, weil die LEDs und der Kamerachip halt doch sehr billig sind – die Mikroskopie es aber ohnehin nicht so mit Echtfarben hat. Ich hatte damit mal vor Jahren jemand den Unterschied zwischen zwei Rasierern gezeigt, indem ich mich morgens links mit einem und rechts mit einem anderen rasiert hatte und mir das Ding dann einfach auf die Backe gehalten hatte – und man dann schön sah, wie die im Licht glitzernden und transparent erscheinenden Barthaare auf der einen Seite so richtig scharfkantig und glatt gekappt aussahen und auf der anderen Seite irgendwie so abgebissen. Die Dinger gibt es von unzähligen Anbietern, sehen wie ein kurzer dicker schwarzer Stift mit silbernem Einstellrad, hinten mit USB-Kabel, vorne mit transparenter Plastikspitze und einem Kranz aus LEDs aus. Eigentlich das optimale Spielzeug für Kinder, um die Welt im Kleinen zu erkunden, weil man die einfach irgendwo dranhalten kann und nicht alles erst für das Mikroskop präparieren muss. Damit allerdings auf- und nicht Durchlicht. Meist wird noch so ein ganz primitiver Ständer mit Klemme mitgeliefert.
Erinnert mich an meine Kindheit. Ich hatte einen entfernten Verwandten, an den ich mich noch geringfügig erinnern kann, uralt, senil, damals gab es das Wort dement noch nicht, von gruseligem Aussehen aber eigentlich liebenswürdigem Charakter, so weit das meine Erinnerung noch hergibt, der aber damals, als ich so ungefähr 4 war, eines ebenso grausigen wie überfälligen Todes dahingerafft wurde, dessen Details ich Euch hier erspare, weil sie auch nicht unter ein Mikroskop gepasst, sondern im Gegenteil eher ein Luftbild erfordert hätten, und von dessen Beerdigung mir mein Vater später mal erzählte, dass sie genau zu ihm gepasst habe, weil sie bei klirrender Kälte und tief gefrorenem Boden stattgefunden habe und den Friedhofsbediensteten beim Herablassen die Gurte aus den klammen Fingern rutschten und der ganze Sarg nach unten in die Grube sauste und mit lautem Krachen auf dem gefrorenen Boden unten Aufschlug und wohl auch brach, was keinen interessierte, Hauptsache das Grab zu und weg ins Warme, und wohl genau nach seinem Geschmack gewesen wäre, weil ein Sargträger dabei noch laut „So eine Scheiße!“ rief, was man über den ganzen Friedhof gehört hätte, wenn überhaupt jemand da gewesen wäre, wofür es aber viel zu kalt war. Schade, dass ich nicht dabei war. Man war der Ansicht, dass Beerdigungen einfach nichts für Vierjährige sind. Ich sah das später anders, das hätte ich mir nur ungern entgehen lassen, gerade weil die Umstände seines Todes jeden Gedanken im Keim erstickten, den Sarg noch einmal öffnen zu wollen.
Der Besagte war seines Zeichens Optiker gewesen, und außer der Erinnerung des Vierjährigen an ihn sind mir nur ein paar alte Brillengestelle geblieben und ein liebevoll und mit einem alten Füllhalter mit „Für Hadmut“ beschrifteten Holzkasten mit einem Mikroskop auf dem Stand der 60er Jahre. Klein, aber gut, mit Revolver für vier verschiedene Objektive. Ich habe viel damit gelernt, und es war wohl eines der besten Dinge, die er mir hätte hinterlassen können, auch wenn es womöglich nur ein Restbestand oder Ladenhüter aus seinem ehemaligen Optikergeschäft gewesen sein könnte.
Eines der wunderbarsten Dinge, die man einem Jungen, wie ich es damals war, in einer Zeit, in der ich dieser Junge war, hatte schenken können. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich das mit dem Präparieren von Präparaten lange Zeit nicht verstanden hatte und statt der richtigen Methode, ein Präparat auf einer Trägerplatte aufzugießen, mit einer dünnen Deckscheibe zu bedecken und optimalerweise noch mit Kunstharz einzugießen, die Brachialmethode nutzte, alles einfach zwischen zwei Objektträgern einzuquetschen.
So kann ich mich erinnern, dass wir mal jemandem eine Zecke aus der Haut holten und ich die natürlich unter dem Mikroskop ansehen wollte, was so eigentlich nicht geht, weil eine Zecke nicht durchsichtig ist und im Durchlichtmikroskop wie ein schwarzer Fleck erscheint. Ich hatte das – noch lebende, aber erbsengroße, weil mit Blut vollgesogene – Vieh zwischen zwei Gläser gepackt und auf dem Objekttisch festgeklammert und versucht, etwas zu sehen. Und mit dem Objektivrevolver alle Objektive durchprobiert. Als ich gerade das Längste vorne hatte, und versuchte, scharf zu stellen, indem ich mit dem Stellrädern den Objekttisch rauf und runterfuhr, aber nicht bedachte, dass eine runde, erbsige Zecke einfach zu hoch ist und deshalb das Objektiv gegen das obere Glas stieß. Wie ich also drehte, gab es einen hörbaren Knall, weil das Objektiv gegen das obere Glas auf der Zecke stieß, und ich dachte erst, das Glas oder das Objektiv wären kaputt, aber es war unter dem Druck nur die Zecke geplatzt. Und das ganze Blut, mit dem die sich vollgesogen hatte, natürlich ausgelaufen und zwischen den beiden Objektträgergläsern plattgedrückt.
Ergebnis: Perfekt.
Denn zumindest solange das Blut noch frisch, flüssig und rot war, ergab sich damit ein zwar rotes, aber ansonsten erstaunlich gutes Präparat, bei dem man im Durchlicht alle Einzelheiten der Zecke optimal eingefärbt sehen konnte. „Was wollt Ihr denn? Guckt doch mal durch, ist doch super!“.
Ich liebte dieses Mikroskop.
Nun konnte ich vor ein paar Tagen nicht widerstehen und habe auf Aliexpress geschaut, ob ich ein solche USB-Mikroskop auch mit FullHD bekomme. Habe ich zwar inzwischen auch, aber ich wollte noch eines, und für Preise zwischen 10 und 20 Euro geht das.
Und habe gesehen, dass es die auch mit Bildschirm und feinjustierbarem Ständer ab 25 Euro gibt. Das kann ja nicht viel taugen, dachte ich, aber weil man sah, dass die auf demselben Stiftmikroskop beruhten, kann es auch nicht grundsätzlich schlecht sein. Nur die Auflösung zu niedrig.
Nun habe ich ein Problem:
USB an und für sich ist gut, seit die sich alle an den UVC-Standard halten, aber passt nicht zu den üblichen HDMI-Videomischern. Also wollte ich mir eigentlich noch einen USB-UVC-zu-HDMI-Umsetzer aus einem Raspberry Pi bauen. Nun habe ich aber mal geschaut, ob es die Dinger auch mit HDMI-Ausgang gibt.
Tatsächlich. So ab etwa 100 Eur bekommt man die mit größerem Bildschirm (bis zu 10 Zoll) und FullHD-, sogar 4K-HDMI-Ausgang, Foto und Aufzeichnung auf Mikro-SD und Fernbedienung. Fernbedienung erscheint auf den ersten Blick überflüssig, ist aber gut, um Foto oder Video auszulösen ohne das Mikroskop zu verstellen. Und dachte mir so, komm, einen Hunni kann man riskieren.
Eben kam das Ding per Post.
Und ich bin sehr verblüfft, was und wieviel man für 100 Euro bekommt. Das Ding – habe es mir erst einmal nur gegen den Bauch gehalten, um den T-Shirt-Stoff zu betrachten – liefert für ein Billig-Ding mit Plastikoptik erstaunlich scharfe Aufnahmen. Und hat nicht nur die Stiftmikroskop-typischen LEDs rund um die Kamera, sondern zusätzlich noch zwei bewegliche Leuchtarme. Kabel auch noch alles dabei, inklusive HDMI.
Ich bin begeistert und muss gelegentlich mal ein paar Testaufnahmen damit machen. Ach, warum warten.
Das ist jetzt nicht mit dem Mikroskop-Ständer gemacht und eingestellt, sondern einfach das Ding frei Hand vor den Bauch gehalten, um die Fasern meines T-Shirts zu fotografieren, dabei natürlich verkantet und verwackelt, weil man bei jedem Druck auf den Auslöser vor allem bei freihändigem Fotografieren das Mikroskop aus der Schärfe bewegt, also eigentlich nicht vorzeigbar, Bilder im Format 9600 × 5400 Pixel. Wenn man das auf dem Ständer fixiert, richtig einstellt und dann verwackelungsfrei mit der Fernbedienung auslöst, werden die natürlich besser. (Nicht bearbeitet, nur von JPEG nach AVIF gewandelt)
(Übrigens ein sehr altes, ausgewaschenes T-Shirt.)
Das Ding kommt zwar von der Vergrößerung nicht an ein ernstliches Mikroskop ran, taugt also eher, um sich die Knoten des T-Shirt-Stoffes anzuschauen als die Mundwerkzeuge einer Zecke, da fehlt noch ein Faktor 50 bis 100, und es ist vor allem Auf- und nicht Durchlicht, aber es ist ein ganz famoses Spielzeug und findet auch reichlich ernstliche berufliche Einsätze. Ich kann mir einige Anwendungsfälle dafür vorstellen. Kann laut Menü 4K/30 oder FullHD/60.
Und die Foto-Auflösung von 9600×5400 ist auch eher ein Marketinggag, weil die Plastikoptik natürlich nicht die optische Auflösung liefert, und das für das Billigstobjektiv viel zu hoch ist. Geschenkt.
Mir ging aber etwas anderes durch den Kopf.
Ich weiß nicht, wieviel das Mikroskop, das mir mein Verwandter hinterlassen hatte, damals in den 60ern im Laden gekostet hatte, und wieviel das kaufkraftbereinigt wäre. Aber das Mikroskop, das ich eben bekommen habe, kostet etwa so viel wie dreimal Essen kaufen im Supermarkt. Und dafür bekomme ich etwas, womit ich Content produzieren kann.
Die Herstellung in Deutschland zu dem Preis nicht möglich. Und das Mikroskop war eher ein Spaßkauf, aber ich kaufe ja auch Objektive von 7Artisan und TTartisan.
Wir bauen da gerade auf die Billigversorgung durch China, obwohl wir wissen, dass China das auch nicht aus Nächstenliebe macht, sondern um seine Wirtschaft in Gang zu halten, dass die deshalb gerade subventioniert exportieren. Ach ja: Der Versand war gratis.
Was aber machen wir, wenn China uns nicht mehr beliefert?
Dann müsste es dann wieder das Mikroskop von Zeiss sein, das mir nicht nur zu teuer und zu groß wäre, sondern dann auch Wartezeiten wie ein Trabi hätte.
Wir werden gerade in einer süßen Abhängigkeit von China eingelullt, und wenn die weg ist, sind wir erledigt. Ich weiß nicht, wo das Mikroskop, was mir mein Verwandter hinterlassen hatte, gefertigt worden war. Ich habe es nicht mehr, weil es nun auch kein herausragendes Mikroskop war, halte eben so ein Jugendmikroskop, und irgendwann einfach verbraucht und nicht mehr zeitgemäß, die Optik trübe wurde. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob da was drauf stand, wo es gefertigt war, ob da Made in Germany drauf stand. Aber ich weiß, dass wir in den 60er Jahren eigentlich keine Mikroskope aus Asien importierten und selbst Kameras aus Asien noch eine Kuriosität und Seltenheit waren. Ich denke, das war noch ein deutsches Produkt.
Was aber passiert mit uns, wenn China uns irgendwann den Hahn abdreht oder wirtschaftlich zusammenbricht, was manche prognostizieren?
Dann gibt es hier nicht nur keine Mikroskope mehr.
Nachtrag: Verstellbare Helligkeit der Beleuchtung und einen eingebauten Akku hat das Ding auch noch.
Nachtrag 2: Weil jetzt mehrere fragten: Ich habe den Shop verwechselt, ich hatte es bei Temu und nicht bei Aliexpress bestellt (ich bestelle allgemein bei beiden). Den URL kann ich nicht angeben, weil der Posten schon wieder ausverkauft ist, aber es gibt unzählige Angebote des gleichen Gerätes, bei Temu nach Lixada suchen.