Ansichten eines Informatikers

Zwischen Emotionaldiarrhoe und Moralsturbation

Hadmut
23.3.2024 15:51

Über das Bundesministerium des Äußersten. [Nachtrag]

Gestern hat mich etwas enorm gestört. Und es stört mich heute auch noch.

Gestern abend gab es doch diesen Anschlag auf eine Konzerthalle in Moskau.

Und noch während der Vorgang lief, man noch überhaupt nicht wusste, was eigentlich passiert ist, die Leichen noch nicht gezählt und noch nicht kalt waren, preschte unser Außenministerium vor, als ging es darum, wer als erster das Selfie-Foto mit den Leichen macht und „Erster!“ ruft:

Man weiß noch gar nicht, was passiert ist, wer lebt und wer nicht, ob die Angehörigen davon überhaupt schon wissen, das Ding brennt noch, die Polizei kann noch nicht rein, und unser verfluchtes Außenministerium hat nichts Eiligeres zu tun, als die Leichengelegenheit zu reiten, um sich zu profilieren und darzustellen.

Auf mich wirkt das, als ob man sich schon in Trauerkleidung an die Familien ranmacht, um ihnen mit einer Hand zu kondulieren und mit der anderen das Handy für die Selfie-Fotos in die Luft zu halten, während der Notarzt unten noch die Reanimation versucht.

Auf mich wirkt das absolut geschmacklos und deplatziert, wenn man damit nicht mal abwarten kann, bis der Unglücksfall überhaupt beendet, Stille eingekehrt, wieder Tageslicht ist, und die Familien, denen man kondolieren will, überhaupt informiert sind. Es wirkt auf mich widerlich, wenn man es so eilig hat, Leichen zur Selbstdarstellung zu missbrauchen.

Für mich ist das so eine Mischung aus Selfie und Katastrophengaffer, ein Fehlen jeder – räumlichen und zeitlichen – Distanz, ein Einmischen in fremde Unglücksfälle zur eigenen Profilierung.

Ich hatte das schon oft beschrieben, am ausführlichsten hier, dass vor allem Frauen ein Verhalten an den Tag legen, das mich so sehr stört, nämlich dieses sofortige Emotionalsynchronisieren: Die können nicht die Klappe halten und erst einmal zusehen, was passiert, um es danach zu besprechen, sondern die müssen mitten in der Situation in ständigen Broadcast-Meldungen ihren Emotionalzustand vermelden, um sich sozial darüber zu versichern, dass man emotionalsynchron ist. Dass es Situationen gibt, in den am besten mal die Klappe hält und sich ruhig, neutral verhält, und dann erst zu einem geeigneten Zeitpunkt was sagt, geht nicht in die Birne. Wie Familienstreit am offenen Sarg.

Meines Erachtens wäre eine solche Eklärung weit besser angekommen und weit weniger geschmacklos gewesen, weniger geheuchelt-automatisiert gewirkt, wenn man damit bis heute mittag gewartet hätte.

Wie will man den „Mitgefühl“ haben, wenn man noch nicht weiß, was überhaupt passiert ist? Das ist, als ob man Kondolenzkarten aus dem Supermarkt auf Vorrat hat und bei Bedarf schnell eine einwirft.

Was vor allem deshalb kritisch ist, weil gerade wieder eine Flut von Fake-News über uns hereinbricht. In den Social Media werden Aufnahmen von „Festgenommenen“ verbreitet, die bereits gestanden hätten, über Telegram Geld bekommen und aus der Ukraine gekommen zu sein, obwohl die Videoaufnahmen schon alt sind:

Es ist reichlich leichtsinnig und fahrlässig, Erklärungen abzugeben, solange die Nummer noch läuft.

Wieso redet man eigentlich von „Unschuldige“? Was sind denn „Unschuldige“? Und was sind „Schuldige“? Wäre es bei „Schuldigen“ dann kein Mord? Ist Euch mal aufgefallen, dass das Attribut „unschuldig“ immer als Emotional-Booster eingesetzt wird, als Empörungsverstärker? Dabei könnte so ein Vorfall ganz anders aussehen:

  1. Es hätte zum Beispiel sein können, dass die russische Armee die Konzerthalle für ihr Führungspersonal gebucht hat, um den Krieg zu feiern. Dann wäre ein Angriff sogar völkerrechtlich zulässig gewesen.
  2. Es könnte sein, dass da zwei verfeindete Mafia-Gruppen aufeinander losgegangen sind.
  3. Es könnte die Opposition gewesen sein und das in Zusammenhang mit Nawalny stehen. Wer weiß, was bei der Wahl vor ein paar Tagen alles gelaufen ist. Und wer in diesem Konzertsaal saß.
  4. Es könnte eine Rache, Gegenwehr, Notwehr für irgendetwas gewesen sein, wovon wir noch nichts wissen.
  5. Es könnte auch ein inszenierter Reichtagsbrand gewesen sein, ein False-Flag, ein Propaganda-Akt, weil der Zuspruch für den Krieg in Russland abflaut. Oder man einen moralischen Vorwand braucht, um Atomwaffen in der Ukraine einzusetzen. Das ging mir als erstes durch den Kopf, und offenbar nicht nur mir, denn die Tagesschau schreibt:

    Der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Andrii Jusow, sagte der Zeitung “Ukrainska Prawda”, die Tat sei eine gezielte Provokation russischer Spezialkräfte. Der russische Präsident Putin begehe Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung.

Ich halte das nicht für einen geeigneten Zeitpunkt für Emotionalitäten. Schon gar nicht für voreilige ohne Informationslage.

Ich zitiere dazu mal die russische Außenamtssprecherin Marija Sacharowa:

Die russische Außenamtssprecherin Marija Sacharowa kritisierte im russischen Fernsehen eine vorschnelle Entlastung der Ukraine, wie sie von den USA gekommen sei. Es werfe Fragen auf, wenn die USA bereits solche Schlussfolgerungen zögen, während die Tragödie noch im Gang sei, sagte Sacharowa.

“Wenn die USA oder ein anderes Land verlässliche Fakten hat, sollten sie diese der russischen Seite zukommen lassen”, forderte die Außenamtssprecherin. Sollte es solche Fakten nicht geben, hätten weder die US-Regierung noch jemand anderes das Recht, vorab Absolution zu erteilen.

In einem Punkt hat sie recht: Man sollte sich mit Geschwätz zurückhalten, „während die Tragödie noch im Gang sei“.

Nochmal aus dem Tagesschau-Artikel:

USA wollen Russland gewarnt haben

Das Weiße Haus teilte mit, die USA hätten die russischen Behörden vor Kurzem vor einem sich möglicherweise gegen “große Versammlungen” richtenden Anschlag gewarnt. Im März habe die US-Regierung Informationen über einen “geplanten Terroranschlag in Moskau” erhalten, der sich möglicherweise gegen “große Versammlungen, einschließlich Konzerte”, richten könnte, sagte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson. Washington habe die Informationen mit den russischen Behörden geteilt.

Auch andere westliche Botschaften hatten zuletzt vor Terroranschlägen in Moskau gewarnt. Der Kreml hatte dies als Provokation des Westens bezeichnet.

Die Russen sagen, wenn die Amerikaner etwas wüssten, sollten sie es den Russen mitteilen. Die Amerikaner und andere westliche Botschaften sagen, sie hätten das den Russen gesagt, die hätten das aber ignoriert. Und in dieser diplomatischen Problemsituation noch bevor man etwas weiß, mit solchen Meldungen mittenreinzuspringen? Schwierig. Sehr schwierig. Diplomatisch heikel.

Ich halte das für überaus kritisch, wenn ausgerechnet auf dem internationalen diplomatischen Parkett in einer ohnehin schon schwierigen Situation bei so einer Sachlage irgendeine Plapperliese das Wasser nicht halten kann und ihren Emotionalüberschuss rauskotzt, um sich zu erleichtern, noch bevor das Tageslicht wieder da ist.

Ich frage mich da immer, welche Angehörigen das überhaupt erreichen soll. Auf mich wirkt das immer wie eine Masturbationsübung für Selbstgefällige, die den einzigen Zweck hat, sich selbst zu gefallen und selbst moralisch gut zu fühlen. Ich habe das als Kind noch gelernt, dass es zu Pietät und Anstand gehört, von Trauernden gebührenden Abstand zu halten und sie zunächst mal ganz in Ruhe zu lassen und zu schweigen, und sich zu einem passenden Zeitpunkt dezent und zurückhaltend zu äußern, und nicht jeden Todesfall zu nutzen, um sich selbst zu produzieren und in den Vordergrund zu spielen, eine Social-Media-Nummer abzuziehen. Die Katastrophen-Gaffer waren schon schlimm. Die Katastrophen-Youtuber schon schlimmer. Aber die Katastrophen-Selfie-Selbstdarsteller sind am Schlimmsten. Fehlt eigentlich nur noch ein medial inzenierter Besuch der Brandruine durch die Außenministerin samt Hoffotograf.

Man kondoliert erst, wenn die Leiche kalt ist und die Hinterbliebenen vom Todesfall überhaupt wissen und die erste Schockphase hinter sich haben. Kondolenz ist kein Überfall. Und man kondoliert eigentlich auch nicht öffentlich, und schon gar nicht öffentlich vor persönlich.

Und Mitgefühl kann man auch erst haben, wenn man weiß, mit wem überhaupt und worüber, jedenfalls nicht mit Leuten, die selbst noch nicht wissen, dass ihre Angehörigen tot sind, weil die ja noch gar nichts fühlen, was man mitfühlen könnte.

Ich finde das alles so widerlich, so geschmacklos, dieses Wettrennen, wer am schnellsten mitgefühlt. Und dann noch so billig über einen Tweet. So selbstinszeniert. Früher hätte man noch wenigstens ein Beileidstelegramm geschickt.

Interessant ist dabei – wieder einmal – dass alles, was grün ist, von einem Heer von Social Media Warriors umgeben ist, die da die schnelle Pöbeltruppe abgeben und damit sofort weitere Kritik blockieren. Nur ein Beispiel von vielen:

So Billigst-Empathie von linker Niveaulosigkeit und ohne jedes Hirn. Also ob man da ein Regal mit tausend vorgedruckten Beileidskarten mit dem immer selben Text hat, aus dem man eine nimmt und nur noch so einen Datums-Stempel draufdrückt, um zu beweisen, dass man noch am selben Tag eine verschickt hat.

Demnächst dann automatisch per KI, die auf den Nachrichtenticker reagiert.

Nachtrag: