Ansichten eines Informatikers

Aktueller Zuwachs

Hadmut
12.4.2023 3:06

Von der Schwierigkeit der Leute, eine Größe von ihrer Änderung zu unterscheiden.

Ist Euch bei der aktuellen Inflation etwas ausgefallen?

Wenn es etwa heißt, die Inflation sei von 10% auf 8% zurückgegangen, reden manche Leute von Entspannung, Erholung, weil das Wort „zurückgegangen“ darin vorkommt, sie merken aber nicht, dass ein stabiler Zustand erst bei 0% erreicht wäre und eine Entspannung, Erholung erst mit einer negativen Inflation, Deflation eintreten würde. Dass ein Rückgang von 10 auf 8% immer noch ein Preisanstieg ist, nur nicht mehr so steil. Oder analytisch gesagt: Die erste Ableitung der Preisfunktion über die Zeit ist immer noch positiv, erst die zweite Ableitung ist negativ. Kurvendiskussion.

Ähnlich mit Steuern. Wenn man sagt, dass die Steuern zu hoch wären und gesenkt werden müssen, reden manche davon, dass kein Raum sei für Steuergeschenke. Jemandem von dem, was ihm gehört, nur etwas weniger wegzunehmen gilt schon als Geschenk, als würde der plötzlich etwas rausbekommen. So lächerlich sich das anhört, ich glaube, dass viele der Leute in der Politik, den Parlamenten und sogar den Medien zu doof sind, den Unterschied zu begreifen. Allerdings muss man auch sagen, dass es schwer ist, das zu begreifen, wenn man in der Schule keine Analysis hatte (oder es wieder vergessen hat) und dann so eines der üblichen Schwafelfächer studiert hat. Ich glaube, dass eine Menge Leute das schon nicht mehr kapieren, was es bedeutet, wenn der Anstieg, die Steilheit gesunken ist. Die nicht unterscheiden können, ob die Funktion oder ihre Ableitung gesunken oder diese oder die zweite Ableitung negativ ist, wenn die Rede davon ist, dass etwas „gesunken“ ist.

80 Prozent mehr Asylanträge als vor einem Jahr.

Das heißt nicht, dass die Zahl der Asylanten in Deutschland um 80% zunimmt, sondern die Anträge, also (unterstellt, sie sind erfolgreich) die Ableitung der Asylantenzahl über die Zeit um 80% zunimmt. Also der Anstieg der Asylanten bei 180% von dem liegt, was er vor einem Jahr betrug. Sie also nicht nur immer mehr werden, sondern inzwischen fast doppelt so schnell mehr werden.

Wäre die Ableitung – also die Zahl der gestellen Asylanträge, mithin bei unterstelltem Erfolg die Änderung der Zahl der Asylanten pro Monat – konstant, würde die Zahl (das Integral, oder, da wir von ganzzahligen Asylanten ausgehen, selbst wenn sie sich manchmal irrational aufführen, die Summe) linear steigen. Steigt die Zunahme aber selbst um einen konstanten Faktor an (was man aus einer einzigen Angabe=Stützstelle nun wirklich nicht folgern kann, aber einfach mal unterstellt zum Zwecke der Unterhaltsamkeit des Gedankens), die Zunahme also nicht eine Konstante, sondern k·x betrage, so dass sie nach einem Jahr 80% höher wäre, also bezogen auf ein Jahr um den Faktor 1,8 steige (und wenn das auch nur für einen Kurvenabschnitt gibt), dann stiege die Zahl der Asylanten quadratisch. Weil ∫ k·x dx = ½ kx2

Und das wird sicher lustig, denn #WirHabenPlatz.

Ich glaube aber nicht, dass das alle kapieren. Wenn die Leute 80% lesen, denken sie, na, bitte, das ist doch weniger als 100%. Und glauben vielleicht, dass nicht nur der Anstieg der Asylanten zurückginge, sondern sogar deren Zahl.

Es wäre eine interessante Frage, wo man eigentlich Asylanten unterbringen will, deren Zahl nicht nur linear, sondern – mal völlig unseriös und unhaltbar aus nur zwei Stützstellen interpretiert – quadratisch wächst. Naja, eigentlich sind es ja mindestens drei oder vier, oder es sind zwei Stützstellen der Ableitung, sonst könnten sie ja nichts über den Anstieg sagen. Und wenn es eine Aussage über den Anstieg, also die Ableitung ist, und da zwei Stützstellen gegeben sind (heute und vor einem Jahr), dann ist die Unterstellung eines linearen Zusammenhangs in der Ableitung gar nicht so unseriös, sondern die einfachste, die man aus der Aussage Anstieg um 80% folgern kann. Wer hätte gedacht, wofür man Analysis noch alles brauchen kann?

Was glaubt Ihr?

Wieviele der Parlamentarier im Deutschen Bundestag, wieviele Minister in der Regierung, wieviele Beamte in den Ministerien können sich unter einem quadratischen Anstieg etwas vorstellen?

Update – Leserkommtar dazu:

Sie können durch Ihre beiden Stützstellen auch gerne ‘ne e-Funktion legen. Das wird dann noch lustiger…

Weiß ich. Durch zwei Stützstellen kann man sich fast alles legen, auch einen Sinus. Oder mit Gewalt einen Logarithmus. Nur würde ich das nicht machen, weil ich auf einer IETF-Konferenz über Spam-Mail-Abwehr so um 2003 in San Francisco mal einen vor versammeltem Saal rund und lächerlich gemacht habe. Da erzählte nämlich einer was davon, dass Spam exponentiell ansteige, hatte aber keine Obergrenzen (wie etwa die verfügbare Bandbreite oder der Speicherplatz) und einfach zu schöne Grafiken in die Zukunft, zu perfekt exponentiell. Ich hatte gefragt, warum die so schön perfekt sind, sowas gäbe es doch gar nicht. Ja, gab er zu, die habe er interpoliert, damit es schön aussieht. Und wieviele echte Stützstellen er für sein exponentielles Wachstum habe. Antwort: 2. Woraufhin der ganze Saal sich ausschüttete vor Lachen und der Hansdampf am Pult nicht verstand, warum. Das war so ein PR-Großmaul irgendeiner Firma. Deshalb würde ich nicht denselben Fehler begehen und durch zwei Stützpunkte der Ableitung eine Exponentialfunktion legen. Mit zwei Stützstellen weiß man eigentlich gar nichts, außer dass es nicht konstant ist, wenn sie nicht den gleichen Wert haben. Da wir hier aber wissen, wie sich die Zahl der Asylanten (also die Funktion selbst) entwickelt, und daraus eine ungefähre Vorstellung der Ableitung entwickeln können, und bei zwei Stützstellen eine lineare Verbindung die am wenigsten riskante ist, halte ich das für vertretbar. Gemäß der alten Weisheit, dass man für ein Polynom n-ten Grades n+1 Stützstellen braucht, um es eindeutig zu bestimmen, und man deshalb bei m Stützstellen, die man hat, für den Anfang tunlichst mal mit einem Polynom m-1-ten Gerades an die Sache herangehen sollte, um einen vertretbaren first guess zu liefern.