Ansichten eines Informatikers

Wettern wider Zypern

Hadmut
5.12.2022 0:05

Es ist gruselig.

Solange ich in Berlin – und nur in Berlin – war, bekam ich jede Menge Zuschriften, mit der Frage, warum ich so verrückt wäre, noch in Berlin zu bleiben. Wahnsinn, Kacke, fällt bald zusammen.

Nur: Wohin man könnte oder sollte wusste auch keiner. Entweder sagten sie gar nichts oder fragten an, wo man denn noch hin könnte.

Seit ich erwähnt habe, dass ich ein Zelt auf Zypern aufgeschlagen habe, kommen zwar ganz viele Glückwunsch-Mails rein – aber auch verblüffend viele Leute, die mir jetzt darlegen wollen, was für ein schrecklicher Fehler es sei, ausgerechnet nach Zypern, den schlimmsten Ort der Welt zu gehen. Ob Erdbeben oder Klima, ob Erdogan oder Seneca, Zypern sei regelrecht verflucht und dem Untergang geweiht. Zwischen „Ob das eine gute Wahl war…“ über „Vom Regen in die Traufe“ bis „Wie kann man so verrückt sein“.

Bessere Empfehlungen hat aber auch keiner.

Bis auf die Spekulativen. Da gibt es dann Leute, die gerade alle 193 verbleibenden Länder der Erde (195 – Deutschland – Zypern) ausprobieren mit „Warum bist Du denn nicht nach x gegangen?“

Ich dachte, ich hätte das erläutert, dass ich nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, alle Länder bereisen konnte, die in Frage kämen oder nicht in Frage kämen, um ein jedes abwzuwägen und das eine zu finden, das frei von allen Nachteilen und Gefahren ist. Beachtlicherwiese liegen mir zu jedem beliebigen Land X Zuschriften von Lesern aus X vor, die mir schreiben, warum es in X immer schlimmer sei.

Drollig ist dann auch die Doppelstandardsargumentationsweise. War ich in Land x noch nicht, heißt es „Warum hast Du Dir nicht x angesehen?“. War ich aber in x, heißt es „Du warst doch in x, warum bist Du nicht nach x gegangen?“ Als stehe felsenfest fest, dass Zypern die schlechteste aller Auswahlen war, und es nur noch darum ginge, mir klarzumachen, dass jeder Doofie merke, dass ich ich ins unendliche Verderben gestürzt habe.

Egal, was man macht, es ist verkehrt. Und keiner, der einem vorwirft, dass es verkehrt wäre, sagt, was er für die richtige Lösung hält, weil es keine richtige Lösung gibt. Und jeder glaubt, dass die für ihn richtige Lösung selbstverständlich auch die richtige für mich sein müsse. Was man tun müsste, welches Land man wählen müsse, um keine Vorwürfe zu bekommen, sagen sie nicht.

Einen ähnlichen Effekt hatte ich auch schon beim Impfen beobachtet. Ich hatte ausführlich erläutert, dass ich niemandem irgendwas empfehle und mich in der Situation sehe, jetzt entscheiden zu müssen und erst hinterher irgendwann zu wissen, was richtig ist, ich also gewissermassen Lotterie spiele. Jede Menge Vorwürfe, warum ich das machen, wie blöd ich sei und so weiter und so fort. Dass ich das mit dem Unterschied zwischen a priori und a posteriori-Wissen begründet hatte und damit, dass mir die nötige Zeit nicht bleibt, um eine qualifizierte Entscheidung zu treffen, kam nicht an.

Manchmal habe ich das Gefühl dass mich viele Leute als Vorbild, als Leithammel nehmen, und mir dann verübeln, dass ich ihnen nicht genau dahin vorauslaufe, wo sie ohnehin hinwollen, und sie quasi genau dahingehend zu leithammeln, wo sie hinwollen ohne selbst Verantwortung für sich zu übernehmen. Dass ich aber gar nicht behaupte, dass meine Entscheidung richtig war, sondern nur, dass sie eine ad-hoc-Entscheidung unter Zeitdruck war, und die Entscheidung in beiden Fällen von der eigenen Situation abhängt, und keine allgemeingültige Entscheidung ist, kommt auch nicht an.

Irgendwie scheinen einige Leute von mir erwartet zu haben, dass ich das Meer teile und das Volk ins gelobte Wunderland führe, und nun darüber enttäuscht zu sein, dass ich zwar das Meer (per Billigflieger) bezwungen habe, aber nicht zum Wunderland gegangen bin, weil ich keines habe.

Mir geht das auf die Neren, dass Leute entweder über Jahre keine Empfehlung geben oder mit „Wie kann man nur in Berlin bleiben, nichts wie weg da“ kommen, aber dann, egal wohin man geht, sagen, dass es falsch war.

Dass viele der mitunter angefragten Länder X schon deshalb ausscheiden, weil ich die Landessprache nicht spreche, oder es mir da zu kalt ist, oder mir die Infrastruktur nicht in die Anforderungen passt, oder es einfach zu weit weg ist, weil ich nicht nach Südamerika pendeln kann, kommt nicht an.

Ich würde es ja noch verstehen, wenn mir Leute sagten, ich solle ins Land X, weil X diese und jene Vorteile habe (und mir bliebe da nur noch die Frage, warum ihnen das erst jetzt einfällt, und nicht vorher, nicht rechtzeitig, weil es doch völlig dumpfsinnig ist, das zu verschweigen, und dann mit Vorhalten zu kommen. ). Aber wenn sie dann kommen, und nicht selbst sagen, warum X besser sein soll, sondern von mir eine Antwort auf „warum nicht X“ erwarten, finde ich das beknackt. Denn ich kenne nicht alle Länder der Welt, und ich kann auch nicht erst in alle Länder der Welt fahren, um die fundierte Antwort auf „Warum nicht X“ vorzubereiten. Ich sage es nochmal: Dafür hat die Zeit gefehlt. Und ich finde es umso erstaunlicher, wenn die Leute selbst dann noch nie in X waren.

Manchmal kommt es mir vor, als wenn man auf der Straße von Leuten gefragt würde, welche Farbe die Unterhose hat. Und wenn man eine sagt, etwa blau, man nach Rechtfertigungen gefragt wird, warum sie nicht grün oder rot oder schwarz ist. Egal, welche Farbe, sie fragen immer, warum man nicht die andere genommen hat.

Vor allem dann, wenn sie selbst noch nie dort waren. Und da auch nicht hinziehen werden, es aber von mir erwarten.

Mir geht sowas auf den Wecker. Man merkt daran, dass sich unsere Gesellschaft in die Richtung einer aggressiven, aber völlig inhaltsleeren und argumentationslosen, unlogischen Rabulustik bewegt hat. Viele Leute kommen da mit einer Angriffsrhetorik an und merken gar nicht, dass sie selbst keinen Standpunkt haben, das alle snur leeres blabla ist, was sie vorlegen.

Und was mich noch mehr stört, ist dieser Glaube an die perfekte Eigenoptimierung. Die Überzeugung dass man eine perfekte, von allen Problemen, Nachteilen und Risiken freie Super-Entscheidung treffen könne. Auch wenn es natürlich schmeichelt, wenn die Leute damit zum Ausdruck bringen, mir diese Superentscheidung zuzutrauen.

Aber es gibt diese nachteilslose Superentscheidung nun einmal nicht.