Ansichten eines Informatikers

Vor langer Zeit in einem fremden, wunderbaren Land…

Hadmut
9.10.2021 1:53

Ich weiß ja nicht, ob Ihr, zumindest die unter den Lesern, die deutlich jünger sind als ich, ich würde mal sagen, so bis etwa 40 Jahre, sich das noch vorstellen können.

Ich habe mal, so ziemlich genau die ersten 30 Jahre meines Lebens, in einem Land gewohnt, gelebt, gearbeitet, gefreizeitet, in dem ich mich frei fühlte.

Ich konnte in sehr weiten Grenzen tun und lassen, was ich wollte.

Ich konnte völlig problemlos sagen was ich konnte. Niemand hat mich dafür angegriffen, bedroht oder angemacht. Schlimmstenfalls hat man mich mal blöd angeguckt.

Vor allem hatte ich die Möglichkeit, die Freiheit, völlig unpolitisch zu bleiben. Die ersten 30 Jahre meines Lebens hat mich Politik überhaupt nicht interessiert, ich habe mich da völlig rausgehalten. Ich habe las Kind nette ältere Onkel im Fernsehen gesehen, wie Willy Brandt oder Helmut Schmitt, oder auch Helmut Kohl oder welche, die nicht so nett waren, wie Franz Josef Strauß oder Herbert Wehner. Aber so im Großen und Ganzen lief das alles, ohne dass ich mich darum kümmern musste. Das hat sich alles so in der Mitte eingeregelt. Ich hatte in der Schule einen Klassenkameraden, der was mit Politik machte. Der war in der CDU, hat aber in der Schule auch nichts politisches gemacht, vor allem niemanden beeinflusst oder irgendwie kritisiert oder unter Druck gesetzt. Alle anderen haben sich für Politik überhaupt nicht interessiert. Mehr als die Fernsehnachrichten zu sehen musste man nicht tun.

Ich hatte die ersten 30 Jahre die Freiheit zu sagen, dass mich Naturwissenschaft, Informatik, Elektronik, Mathematik, Physik und Fotografie interessieren und sonst: nichts. Ich hatte die zwei Freiheiten, das zu tun, was mich interessiert, und alles bleiben zu lassen, was mich nicht interessiert. Und man hat das akzeptiert. Niemand hat mich als Nerd oder weißen Mann oder sowas beschimpft. Ich durfte das, einfach so. Und niemanden hat es gestört.

Ich hatte nicht viel Geld, sehr wenig sogar. Aber das wenige Geld konnte ich auf ein Sparbuch einzahlen, und einmal im Jahr bin ich zur Bank und die haben mir da ordentlich Zinsen dafür in mein Sparbuch gedruckt.

Im Kino kamen tolle Filme, so richtig respektlos und witzig, und man hat sich vielleicht mal dran gestört, dass zuviel nackte Haut zu sehen war, aber nicht am Inhalt. Gut, Cher musste sich für einen Auftritt in der Familiensendung Wetten Dass!? ein Miniröckchen überziehen, weil man ihren an den nur an den Ohren eingehängten Supermicroministringtanga doch ein bisschen zu schmal für ein Familienprogramm fand, aber dafür war der Playboy noch eine angesehene seriöse geachtete Zeitschrift.

Das Land, in dem ich lebte, war ziemlich sicher. Man konnte ohne weiteres nachts um drei alleine durch die Innenstadt nach hause gehen. Ich bin nie in der Öffentlichkeit von irgendwem bedroht worden. Bis auf ein altes Fahrrad, an dem man mir ein Teil nach dem anderen klaute, und ein neues Fahrrad, das man mir im Ganzen klaute, ist mir nie irgendetwas gestohlen worden. An Einbrüche in der Nachbarschaft könnte ich mich nicht erinnern.

Die Steuern gingen noch halbwegs, Strom konnte man bezahlen. Ich habe jahrelang passabel von 700 DM im Monat gelebt. Ich habe mal – manche schrieben mir, als ich das schon mal erwähnte, das sei ja nur ganz kurz gewesen, aber so war es eben, ich kann mich nämlich noch erinnern, wie ich mich gefreut habe – in Koblenz so um die 70 Pfennig für den Liter Benzin bezahlt. Das wären unter 40 Cent.

Niemand hat mir irgendwelche Sprachvorschriften gemacht.

Den Sarotti-Mohr hatte man gerne, er stand für hohe Qualität und lecker Schokolade.

Fernsehen gab es nur wenig, lange Zeit nur ein paar Stunden am Tag, aber in der Zeit gab es da Leute mit unterschiedlichen Meinungen. Es gab sogar mal eine Sendung (Frontal mit Hauser und Kienzle), in der unterschiedliche Meinungen in ein und derselben Sendung vertreten wurden. Und das nicht durch Parteien, die man als Watschenhansel vorgeführt hat, sondern durch die Moderatoren selbst. Weil die noch dachten, das gehöre so, dass man verschiedene Ansichten präsentiert.

Es gab noch Fernsehsendungen mit nackten Brüsten. In den Erotiksendungen ging es noch um Lust und nicht um Notstandsmasturbation.

Es gab noch lustige Sendungen. Comedy war noch dazu da, das Publikum zum Lachen zu bringen und nicht, es zu beschimpfen und beschuldigen.

Unterhaltung war unpolitisch und neutral, wie war eben: Zeitvertreib, Unterhaltung, Entspannung. Man sollte Sorgen vergessen und nicht zusätliche aufgeladen bekommen.

Und jeder bekam mal sein Fett ab, nicht alles immer nur gegen weiße Männer. Überhaupt, der weiße Mann war nicht das Angriffsziel. Man achtete gar nicht so auf Rassen, Hautfarben und Geschlechter.

Universitäten funktionierten nicht sehr gut, aber zumindest noch so ein bisschen, und man war noch überzeugt, dass es um Wissenschaft ging und gehen sollte.

Niemand kam an, um irgendwen aus Hörsälen zu verdrängen oder Vorlesungen zu verbieten. Wir hätten uns das auch nicht bieten lassen.

Es gab tolle Musik. Richtig gute Musik.

Und Migranten hießen „Gastarbeiter“, weil sie gekommen waren, um zu arbeiten, und nicht, um sich durchfüttern zu lassen. Man fand es völlig in Ordnung, sie Arbeiter zu nennen, weil sie genau das getan haben. Sie haben gearbeitet. Sie waren Mitarbeiter und keine Mitesser.

Wohnungen waren relativ einfach zu haben. Zu kaufen und zu mieten.

Man hatte eine Wohnung oder ein Haus, ein Auto, hat einmal im Jahr Urlaub gemacht.

Und dann ging man relativ früh in Rente und dann ein-, zweimal im Jahr auf Krankenkassenkosten in Kur.

Die Krankenkassen haben alles gezahlt. „Zuzahlungen“ gab es nicht. Es gab sogar die Brillen auf Rezept. Zwar nur die billigeren „Kassenbrillen“, aber immerhin.

Von seiner Rente konnte man gut und bequem leben. Rentner mussten normalerweise nicht nebenher arbeiten, sondern waren eben Rentner. Flaschensammeln gab es nicht. Hätte ja auch nichts gebracht. Flaschenpfand gab es nicht.

Bücher konnte man einfach so kaufen, unverändert. Ob Karl May oder Pippi Langstrumpf, wenn der Negerkönig ein eben solcher war, dann war er das eben.

Die Verwaltung war entsetzlich bürokratisch, papierkramig und umständlich, aber innerhalb dessen funktionierte sie zuverlässig.

Vielleicht war es nicht das beste und schönste Land, aber im Vergleich zu unserem Land heute war es ein wunderbares Land, an das ich so gute Erinnerungen habe.

Das Land hieß Westdeutschland.

Kennen viele von Euch nicht mehr.

War gut.

Und dann war die Mauer weg und seither ging es rapide bergab. Ich weiß nicht, wie es passierte, aber heute lebe ich in einem Alptraum von Land, einer Dystopie.

Und sie erzählen uns, das nenne man „progressiv“.