Ansichten eines Informatikers

Postwurfsendung – besser spät als nie

Hadmut
23.12.2020 13:03

Eben war ich wirklich baff. Damit hätte ich nicht mehr gerechnet.

Es klingelte an der Tür, der Briefträger. Netter Mensch, kennt mich ja auch. Und weil der auch Social Distancing betreibt und ich mich auf seine Andeutungsgeste hin mit einer Gegengeste als empfängnisbereit dargestellt hatte, warf er mir ein Päckchen aus der Entfernung zu. Weißer Beutel aus Polsterblasenfolie.

Ah, eine Postwurfsendung, dachte ich mir.

Was mag da drin sein?

Ich habe zwar in den letzten Tagen noch einiges bestellt (Jahresende, Steuererklärung und so), aber hatte heute eigentlich keine Warensendung mehr erwartet, weil alles, was ich bestellt habe, entweder schon da war oder allerfrühestens morgen, eher nächste Woche kommen kann.

Als ich das Ding aufgemacht habe, war ich wirklich baff. Damit hätte ich wirklich nicht – mehr – gerechnet.

Kennt Ihr diese Startfinanzierungsplattformen? Kickstarter, Indiegogo und so?

Leute, die meinen, sie hätten irgendwas konstruiert, und würde das nun gerne bauen lassen, haben aber das Henne-Ei-Problem, dass man ohne Geld nicht produzieren und ohne Produkt das Geld nicht einnehmen kann, können da ihr Projekt vorstellen, und dann kann man bieten. Man geht quasi in Vorkasse, damit die das dann produzieren, und bekommt dafür, je nachdem, wieviel Geld man gibt, irgendwelche Versprechen, dass man das Produkt oder auch zwei oder mit Zubehör oder weiß der Kuckuck, was sie gerade anbieten, dann irgendwann bekommt, sobald es lieferbar ist.

Die betonen ja immer, dass wenn man da Geld einwirft, man keinen Kauf tätigt, also auch keinen echten Lieferanspruch hat. Sondern man quasi in ein Unternehmen, eine Idee, in Produkt investiert. Läuft’s gut, bekommt man das Produkt frühzeitig, etwas günstiger als im Laden, und hat dazu beigetragen, dass es überhaupt hergestellt werden konnte. Kommt nicht genug Geld zusammen, um die Produktion zu starten, wird die Sache abgeblasen und man bekommt sein Geld zurück. Man hat aber eben auch das Risiko, dass es schief gehen kann. Dessen muss man sich bewusst sein. Man macht das auf eigenes Risiko.

Ein paarmal hatte ich an sowas schon teilgenommen. Bis auf die hier beschriebene Ausnahme bisher immer mit Erfolg.

Irgendein Fotograf war mal stinksauer, dass es keinen passenden Objektivtüllen aus schwarzem Silikongummi gibt, mit denen man Objektive so an eine Scheibe anlegen kann, dass kein Fremdlicht eindringt und es deshalb nicht reflektieren kann, womit man drastisch besser durch Glasscheiben fotografieren kann, beispielsweise Schaufensterscheiben oder in Museen oder sowas. Da hatte ich mir auch mal eine bestellt. Irgendwann hatte der genug Bestellungen, konnte das Ding in irgendeiner China-Fabrik fertigen lassen und hat geliefert. Prima Ding, Kleinstserie halt.

Stativhersteller Sirui baut seit einiger Zeit auch Objektive, und zwar für verblüffend kleines Geld (so um die 500 bis 700 Euro) verblüffend gute anamorphe Objektive für APS-C-Sensoren. Sowas wollte ich schon immer mal haben, mal so einen kinofilmmäßigen Youtube-Streifen in 2:35 aufnehmen, aber normalerweise kosten solche Objektive zwischen 4 und 6-stellig, für alle außer kommerziellen Kinoproduktionen unbezahlbar. Sie hatten neulich eine neues Modell für kleines Geld auf Indiegogo, ich konnte es mir nicht verkneifen, weil ich so gerne mal eines haben und ausprobieren wollte. Ging dann ruckzuck. So ungefähr jede Woche haben sie eine Charge von vielleicht so um die 1000 Stück fertigbekommen und versandt, und obwohl ich erst ganz am Schluss der Kampagne bestellt hatte, waren die in der vierten oder fünften Woche schon so weit, dass ich auch dran war, das Ding gediegen und von feinster Qualität. (Fehlt mir nur noch ein Drehbuch für einen Western oder sowas.)

Etwas ins Stottern kam pokit.

Australische Firma, die Taschenmultimeter und ähnliche Messgeräte herstellt. Bei denen hatte ich mir ein Multimeter in Griffelform bestellt, zum Messen, Aufzeichnen, in Grenzen auch als ganz primitives und einfaches Oszilloskop zu verwenden. Hat keine Anzeige, muss man mit dem Handy verwenden, und die ganze Software, Berechnung usw. alles nur als App. Normalerweise mag ich sowas nicht, aber für auf Reisen ist das optimal. Ich habe unterwegs (Batterien testen usw.) schon einige Male ein Multimeter gebraucht und hatte bisher so ein kleines, ganz einfaches, flaches Taschenmultimeter dabei gehabt, aber das von pokit ist kleiner, leichter und kann mehr, also bestens für auf Reisen, wo es ganz klein und ganz leicht sein muss.

Aber, ach. Sie schreiben, dass ihnen nicht nur COVID-19 einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, was Produktion und Auslieferung angeht, und für die Verzögerung um Verständnis und Nachsicht bitten, sie hätten durch die Verzögerung mehr Zeit zum Testen gehabt und dadurch noch irgendein Problem gefunden (ich glaube, es war ein thermisches, irgendwas wurde zu heiß, wenn man zu lange hohen Strom misst), und auch die Lösung dazu, andere Anordnung der Bauelemente. Da warte ich noch, aber da geht es nur um einen kleinen Geldbetrag, und außerdem habe ich von denen ihr älteres Modell polit Meter (ganz kleines rundes Taschenmultimeter) als Dreingabe schon geschickt bekommen, ich habe also schon etwas, was meinen Zweck im Prinzip schon erfüllt. Da will ich nichts sagen, für Corona können sie ja auch nichts.

Und dann kommt das Projekt, bei dem ich wirklich stinksauer bin.

Eine Firma, die eigentlich schon bekannt und etabliert ist/war, und von der es funktionierende Produkte gibt, hatte AIR PIX angeboten, eine Subminiaturdrohne für den unmittelbaren Nahbereich, die man über seinem Kopf fliegen lassen kann oder irgendwie sonst in seiner Nähe, ganz kurze Flugdauer, aber dafür im Jackentaschenformat. Ich hatte sowas von einem anderen Hersteller mal in einem Elektronikmarkt in der Hand. Inzwischen würde ich sagen, dass man mit einer DJI Mini technisch weitaus besser dran ist und die seriös herstellen und liefern, aber die gab es damals noch nicht. Also hatte ich mir so ein Ding bestellt, samt Zubehör Etui mit eingebautem Ladeakku. Zwei davon. Das war im Sommer 2019, ich meine Juni oder sowas. Eigentlich hätten die Dinger im Juli oder August ausgeliefert werden sollen, also lange vor Corona. Ich weiß nicht mehr, wieviel ich dafür bezahlt habe, ich müsste die Mail und den Buchungsbeleg raussuchen, es waren, glaube ich, so zwischen 200 und 300 Euro. Für zwei Exemplare und zwei Akkuhüllen.

Und seither gab es nur die unglaubwürdigsten Verzögerungsmails. Unzählige davon. (41, um präzise zu sein.) Die absurdesten Ausflüchte.

Mal sei dies dazwischen gekommen, mal jenes. Aber jetzt ganz bestimmt, die Produktion stehe unmittelbar bevor. Aber jetzt ganz sicher. Oh, sie bitten um Entschuldigung, sie hätten nochmal alles gestoppt, es hätten sich noch ganz enorm wichtige Designänderungen am Propellerprofil ergeben. Und so weiter. Und natürlich Corona, rauf und runter. Ganz China hat schon längst wieder den Betrief aufgenommen, aber die da jammern, es ginge nichts und sie könnten nichts dafür und und und.

Wie die typischen Ausflüchte von Betrügern und Schneeballsystemen.

Und dann noch der Brüller: Sie wollten eine zweite Finanzierungsrunde machen, in der man die Gelegenheit bekomme, ihnen nochmal Geld zu geben.

Die Leute toben. Tausende von Beschwerdekommentaren, alles Betrug, keiner hätte je ein Exemplar gesehen, gar bekommen, als Schwindel und ein Betrugsprojekt. Alles Fake, gibt es gar nicht. Auf der Suche nach jemandem der im betreffenden Bundesstaat Strafanzeige stellen kann, ist nämlich nicht so einfach aus der Ferne.

Es tat sich nichts.

Irgendwann hatte ich mir gedacht, nicht drüber ärgern, das lohnt sich bei dem Betrag nicht, ich habe ja vorher gewusst, dass das ein Totalverlust werden kann. Ein Risiko einzugehen heißt eben auch, dass es mal schief gehen kann. Sonst wäre es ja keines. Gespielt, gepokert und verloren.

Ärgerlich ist es aber schon, weil es nicht nach gescheitertem Projekt, sondern nach Betrug aussieht. Immerhin haben die auf mehreren Plattformen so ungefähr 2 Millionen Dollar eingenommen und haben die wohl einfach eingesteckt.

Dann passierten aber zwei seltsame Dinge:

  • Das Ding tauchte im Handel auf. In den USA. Und auch hier in Deutschland bei Conrad Elektronik. So ganz Fake kann es doch nicht sein, die Läden würden das ja nicht machen, wenn sie nicht doch was in der Hand hätten, es das Produkt als solches gäbe.

    Führt natürlich dazu, dass die Leute noch viel sauerer waren, was für eine Unverschämtheit, zuerst an den Handel zu liefern statt an die, die das alles finanziert haben. Da sie allerdings Liquiditätsprobleme eingeräumt hatten, hat man wahrscheinlich erst mal an die geliefert, von denen man dafür dann noch Geld bekommt.

  • Ganz wenige Leute hatten ein Exemplar bekommen – oder sich sogar im Laden gekauft – und meinten, das sei nahezu wertloser Schrott, entweder funktionierten sie gar nicht oder flögen sehr instabil und eher unkontrolliert, die Bilder der Kamera viel zu billig und schlecht.

Nun, dachte ich mir, das Geld ist halt futsch, denk nicht weiter drüber nach. Es bringt nichts, verlorenem Geld noch hinterherzutrauern, davon kommt es nicht wieder. Außerdem habe ich ja eine schöne DJI-Drohne, und die ist zwar nicht so schön klein, aber dafür so richtig gut. Hatte das alles längst geistig weggelegt und unter Verlust und Lehrgeld verbucht.

Was finde ich gerade in dem Beutel, den mir der Briefträger samt Weihnachtswunsch zugeworfen hatte?

Die bestellten zwei Drohnen nebst der bestellten Akku-Etuis.

Eineinhalb Jahre zu spät, aber immerhin.

Nun werde ich über Weihnachten das Projekt unternehmen, herauszufinden, ob die Vorwürfe, dass es egal sei, ob man sie bekommt oder nicht, weil sie ohnehin unbrauchbar wären, stimmen.

Aber der Umstand, dass ich jetzt doch zwei Exemplare bekommen habe, hat mich sehr überrascht. Und der Umstand, dass sie durch die Luft kamen, war so passend.