Ansichten eines Informatikers

Analphabetismus

Hadmut
5.10.2020 2:06

Nur mal so eine Frage, ob wir uns eigentlich vorwärts oder rückwärts bewegen.

Ist mir gerade so aufgefallen, weil ich wieder mal über die Fettbemmen-Parodie dazu gestolpert bin:

Ich weiß nicht mehr, von wann der Film eigentlich ist, aber der war mal sehr bekannt, wurde auch reichlich parodiert, und war aus einer ganzen Reihe von kurzen Spots eigentlich der beste und eindrucksvollste:

Dieser Videospot (das hier ist gekürzt, das fehlt hinten ein Stück, vergleiche die Parodie „da muss man doch was machen”) ist hier auf Youtube mit Datum 2013 und dem Titel „…neu aufgelegt…” publiziert, und der Text dazu lautet:

Bundesverband Alphabetisierung

Viele Menschen kamen vor über 14 Jahren durch den “Lagerarbeiter” Spot zum ersten Mal mit dem Thema Analphabetismus in der Bildungsrepublik Deutschland in Kontakt. Damals wurde die Zahl der Betroffenen noch auf 4 Millionen geschätzt. Die im Jahr 2011 veröffentlichten Zahlen der leo-Studie zeigen allerdings, dass sich die Situation für die Betroffenen seit dem kaum verbessert hat. Im Gegenteil: Heute steht fest, dass es in Deutschland über 7 Millionen Erwachsene gibt, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben.

Der aktualisierte “Lagerarbeiter” Spot zeigt jetzt die neuen Zahlen und bietet Hilfe über die kostenlose Telefon-Nummer des Alfa-Telefons: 0800 53 33 44 55. http://www.alfa-telefon.de

Als das Ding das erste Mal erschien (wenn ich mich recht erinnere, kam das im Kino in der Werbung vor dem Hauptfilm), war die Rede noch von 4 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht lesen und schreiben können. Ich hatte mir sowas als Abiturient eigentlich nicht vorstellen können. Ein Lateinlehrer kam mal fix und fertig in den Unterricht und erzählte völlig geplättet, dass er gerade eben noch beim Postamt war, vor ihm jemand von den Schaustellern des gerade laufenden Backfischfests die Einnahmen eingezahlt hatte, aber weder Lesen noch Zählen oder Rechnen konnte, sondern da einfach eine Aktentasche ausgekippt hatte, in die das Geld völlig unsortiert einfach reingestopft war. Ein ziemlich großer Geldbetrag, und derjenige hatte überhaupt keine Ahnung und Vorstellung, wieviel das war, konnte die Geldscheine nicht mal sortieren. War auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dem Beamten zu vertrauen. Der Lateinlehrer stand dahinter, hat das alles mitangesehen und seinen Weltzusammenbruch erlebt, von dem er sich für den Rest des Tages nicht mehr erholt hat. Ich selbst war dann Baff, als ich bei der Bundeswehr auf Leute gestoßen bin, die nicht oder nur mühsamst Lesen konnten, gerade mal die BILD-Schlagzeilen entziffern. Vorgesetzte, die den Plural von Gewehr G3 „Gehdreiß” schrieben.

Und dann natürlich den funktionalen Analphetismus bei Universitätsprofessoren. Als sogenannte funktionale Analphabeten bezeichnet man Personen, die über keine ausreichende schriftsprachliche Kenntnisse verfügen, die in ihrem privaten und beruflichen Lebensumfeld vorausgesetzt werden. Schon zu meiner Uni-Zeit waren viele Professoren der Schriftsprache auf wissenschaftlichem Niveau nicht gewachsen.

Als sie das Video dann 2013 nochmal brachten, war die Zahl der Analphabeten nicht etwa gesunken, sondern von 4 auf 7 Millionen gewachsen.

Hört man eigentlich noch was von denen?

Oder haben die inzwischen kapituliert?

Wieviele Analphabeten haben wir heute?

10 Millionen primäre und sekundäre (=solche, die es mangels Anwendung wieder verlernt haben)? 15? 20?

Und wieviele funktionale?

Leute, die nicht mehr können als Twitter-Geschwurbsel?

Leute, deren aktiver Wortschatz so gering ist, dass man keine 5 Minuten bräuchte, ihn langsam aufzuzählen?

Journalisten?

Politiker?

Ich hatte das schon beschrieben, dass so viele Journalisten nur noch einen sehr geringen Satz an gedanklichen Kategorien haben und für jede höchstens noch zwei Begriffe, einen positiven und einen negativen. Dass die Leute Hass und Verachtung nicht mehr unterscheiden können, weil sie das Wort Verachtung nicht mehr begreifen (und die Poststrukturalisten damit gewisserweise sogar Recht haben, dass die Realität auf die Begrifflichkeiten schrumpft)?

Der Effekt, dass die Leute immer mehr mit Emojis, oder auf Twitter mit Memes kommunizieren, weil sie sich sprachlich nicht mehr ausdrücken können? Viele nur noch per Video kommunizieren können?

Wieviele Analphabeten haben wir heute?

Oder sollten wir langsam anfangen, stattdessen die Alphabetisierten zu zählen?

Sind wir bald wieder beim Mittelalterzustand, irgendwann vor Gutenberg, als nur eine kleine Kaste von Wissenschaftlern und Kirchenleute lesen und schreiben konnte?

Was wäre heute politisch los, wenn man diesen Werbespot wieder zeigen würde?

Wäre man dann wegen Rassismus dran? Nazi? Ausländerfeindlichkeit? White Supremacy?

Ich überlege gerade, ob es nicht sehr erholsam und vorteilhaft für die, die noch lesen können, wäre, wenn nur noch wenige lesen könnten.

Andererseits wird es Handy-Apps, Geräte wie Alexa und dergleichen geben, die das für einen übernehmen. Alles wird sprechen und seine Bedienungsanleitung auf Video anzeigen, Internet of Things und so. Kein Kühlschrank, keine Waschmaschine, die kein Farbdisplay hat und mit einem quatscht. Ich hatte irgendwann mal in irgendeinem Elektronikmarkt eine Einsteigerkamera in der Hand, bei der man nicht mehr Blende und Belichtungszeit ausgewählt hat, sondern nur noch auf einer Skala von Beispielfotos mit dem Finger angetippt hat „so will ich’s haben”.

Vielleicht hätte ich doch mehr auf Youtube machen sollen.

Vielleicht wird man mein Blog in 10 oder 20 Jahren nicht mehr lesen können.