Ansichten eines Informatikers

Ein schwieriges Problem liegt auf der Straße

Hadmut
16.6.2019 6:53

Eben kam ich in eine schwierige Situation.

Bevor hier jemand losspekuliert: Nein, ich logiere in einer seriösen, ordentlichen Gegend, wenn auch nicht der teuersten. Trotz der seltsamen Unterkunft, die ich schon erwähnte. Denn anders, als manche glauben und kommentierten, bin ich nicht in der billigsten Absteiger im finstersten Loch abgestiegen, sondern habe zwischen den wenigen Alternativen, die mir ob der späten Buchung zur Hauptsaison noch blieben, abgewogen, welche Vor- und Nachteile mir wichtig sind. Und für diese Unterkunft sprach die gute, zentrale Lage, und dass viele der wichtigsten Attraktionen zu Fuß oder mit höchstens drei U-Bahn-Stationen erreichbar sind. Die Gegend hier ist nicht zu beanstanden, sie ist sauber und sicher. Bisher konnte ich keine Spuren von Kriminalität, Vandalismus oder sowas hier beobachten. An der Gegend liegt es also definitiv nicht.

Ich kam eben, wie an den meisten der bisherigen Abende, an der U-Bahn-Station an, die hier einen Block entfernt liegt, allerdings einen langen Block entlang der Straßen, nicht die kurzen entlang der Avenues. Die Straße ist zwar etwas dunkel, weil nicht ausgeleuchtet, und dann auf einer Seite noch mit einer längeren Baustelle verengt, weshalb der Fußweg (ähnlich wie auch bei uns üblich) auf der Straße entlang geführt und mit solchen großen Kunststoff-Trennelementen aus rotem und weißem Plastik vom Verkehr getrennt wird. Dazu eben etwas finster, aber nach meinen bisherigen Erfahrungen komplett harmlos.

Wie ich heute abend wieder mal von der U-Bahn zur Unterkunft gehen will, gehen vor mir noch einige einhemische Amerikaner, darunter auch ein rausgeputztes Paar, er im Smoking, sie im tollen, verdammt knappen, aber nach hinten lang wehenden, atemberaubenden Abendkleid auf hohen Absätzen, rausgeputzt also. Gingen halt so vor mir her. Plötzlich merke ich, dass die stehen bleiben, nicht weitergehen, sie gibt einen angewiderten Ton von sich (so Uäääh…) und sie drehen sich, um die Straßenseite zu wechseln, können aber nicht sofort, weil Autos kommen.

Ich entdecke den Grund.

In der Ecke zwischen Häusern und Anfang des umgeleiteten Fußweges liegt eine Frau irgendwo zwischen irgendwas, ich glaube, es waren Mülltonnen, in unnatürlicher Haltung auf dem Boden, komplett nackt, auf dem Rücken. Keinerlei Bewegung. Kopf nicht zu sehen, weil hinter irgendwas verdeckt. Alles unterhalb des Kopfes liegt offensichtlich da, aber nicht in einer Weise, in der man sich freiwillig hinlegen würde. Der erste Gedanke war: Leiche. Aber die Hautfarbe sah nach normal durchblutet aus. Als ich so stehenblieb und einen Moment guckte, um die Lage einzuschätzen, stellte sich heraus, dass hinter ihr noch ein Mann im Dunkel lag, schwer einzusehen, der mich – nicht verständlich, hörte sich schwer nach Drogen an – mir irgendwas als Beleidigung an den Kopf warf, so der Tonfall wie „Hau ab und kümmer Dich um deinen eigenen Scheiß!”

Was machen?

Wie die Amerikaner einfach weitergehen?

Ist das dann unterlassene Hilfeleistung?

Muss man sich andererseits um jedes Crack-Wrack kümmern?

Momentan war es lauwarm, aber in den letzten Tagen war es auch ein paarmal kurzzeitig frisch, und es fing gerade so an zu tröpfeln, und das kalt. Jemand, der bewusstlos nackt auf dem Boden liegt, kann daran erfrieren.

Was machen?

Ich habe mir vorgenommen, noch die 120 Meter bis zur Hauptstaße (Avenue) zu gehen, dort nach einem Polizeiauto Ausschau zu halten, und wenn ich dort keines finde, per Handy einen Notruf abzugeben, was ich eigentlich nicht wollte, um da nicht persönlich involviert zu werden.

Die Göttin des Notrufs war mir gewogen, ich fand gleich vorne an der Straße ein geparktes Polizeiauto. War aber keiner drin. Ein Passant, der bemerkte, dass ich da gerade suchend in das Polizeiauto gesehen hatte, sagte mir, die wären gerade drin im Laden an der Kasse, die hätten sich gerade was gekauft. Ich also rein, die zwei Polizisten angesprochen, die gerade ihren Mampf bezahlten, und ihnen die Situation geschildert. Sie versicherten mir, sie würden sich sofort darum kümmern. War ja auch nur 150 Meter entfernt.

Ich denke, ich habe in der Situation meine Pflicht und Schuldigkeit durch Information der Polizei getan, die waren so sogar schneller da, als wenn ich erst per Notruf erklärt hätte, was Sache ist, und die hätten anfahren müssen, mich vielleicht noch zum Warten aufgefordert hätten oder sowas.

Trotzdem stellte sich die Frage, was man in so einer Situation macht. Jemandem Polizei und ggf. Krankenwagen rufen, auch wenn die das (oder zumindest ihr Begleiter) gar nicht will?

Wie weit müsste man sich eigentlich selbst gefährden? Anfassen?

Brrrr.

Dieselbe Situation wäre in Berlin auch nicht abwegig.