Ansichten eines Informatikers

Gruseln im Wandel der Zeit

Hadmut
10.12.2017 16:20

Es gibt Dinge in der Fotografie, die mir bisher völlig unbekannt waren.

Ich dachte, ich hätte die Fotografie des 19. Jahrhunderts gesehen. Diese ersten Versuche mit langen Belichtungszeiten bis hin zu Stunden, auf denen dann keine Menschen zu sehen waren (weil die sich bewegten). Viele Leute dachten damals, man könne nur tote Materie fotografieren, nicht Belebtes. (So wie Vampire im Spiegel.) Man vermutet, dass dies die erste Aufnahme ist, auf der Menschen zu sehen waren, weil auf der Straße ein Schuhputzer zugange war, der eben sehr lange auf seiner Arbeitsbank saß.

Und wie bei jeder Medientechnologie – Videokassette, DVD, Virtual Reality – war auch hier die treibende Anwendung die Aktfotografie und Pornografie. Es gibt herrliche Sammlungen von Schweinkram des 19. Jahrhunderts, auch Stereographien (damals der große Brüller), mit der man sich die Aktfotografie erschlossen und naive Pornobildchen produziert hat. Oft unglaublich neckisch, bisweilen derb, stets unter dem Ladentisch gehandelt. Ich habe einige Bildbände mit kleinen Schweinereien aus dem 19. Jahrhundert, und es gab sogar mal Postkartenbücher (ja, sowas gab’s mal vor E-Mail und Facebook), eine Sammlung von Postkarten, die man heraustrennen und verschicken konnte. Eben auch mit Schweinkram des 19. Jahrhunderts. Habe ich mal verschickt, kam aber nicht gut an. Man war nicht so begeistert. Seither hab ich’s bleiben lassen.

Auch die dokumentarische und (pseudo-)wissenschaftliche Fotografie war damals schon ein Thema. Bewegungsstudien von Tier und Mensch. Und natürlich Portraits und Familienaufnahmen, wegen der irrsinnig langen Belichtungszeiten noch mit Stativen, an denen man fixiert wurde. Neulich ging ein Foto herum, das wie in modernes Modefoto aussieht, aber nur modern koloriert wurde. In Wirklichkeit zeigt es Lewis Powell kurz vor seiner Hinrichtung, und der war einer der Attentäter von Abraham Lincoln und wurde 1865 gehängt. Die Bildqualität war erstaunlich gut.

Bemerkenswert sind auch Ausstellungen alter Fotos, die selbst nach hundert Jahren noch frisch, kontrastreich, scharf aussehen und so manches moderne Handy-Foto locker abhängen. Ich habe in einem der Bücher mal eine Aktfotografie einer jungen Frau entdeckt, die nicht nur fotografisch von sehr hoher Qualität – perfekt belichtet, sehr scharf abgebebildet usw. – war, sondern völlig modern aussah. Auch weil sie nicht so – wie damals üblich – künstlich, steif, gestellt aussah, auch keine seltsame Frisur hatte, sondern völlig entspannt und locker in die Kamera blickte. Ich war sehr verblüfft, als ich mal in einer Ausstellung in Karlsruhe – ich glaube, es war die Sammlung Uwe Scheid (was ist aus der eigentlich geworden?) – vor dem „Original” stand, das nochmal besser als die Reproduktionen war und zu meiner Verblüffung nicht auf Papier oder Glas, sondern auf Blech belichtet worden war. Da das Bild aus dem 19. Jahrhundert stammte, war die Dame bedauerlicherweise nicht mehr am Leben.

Heute allerdings bin ich zufällig auf etwas gestoßen, was mir bisher völlig unbekannt war.

Man hat, vor allem wohl in Amerika, im 19. Jahrhundert die Sitte gepflegt, Leichen, vor allem Kinder, als Andenken so anzuziehen und zufixieren, als würden sie noch leben. Hingesetzt, mit Stativen fixiert, ihnen Augen auf die geschlossenen Lider oder später auf das Foto gemalt. Und nicht selten (lebende) Angehörige mit auf das Bild gepackt, als wäre es ein Familienfoto, die dann noch einen Arm oder sowas halten. Wenn man nicht durch die Texte oder durch Vorwissen wüsste, dass da auf den Bildern welche schon tot sind, würde man es gar nicht merken. Soll angeblich deshalb entstanden sein, weil Fotografie damals sehr selten und sehr teuer war, und man nicht wie heute ständig fotografiert wurde. Damals starben die meisten Leute noch, ohne auch nur ein einziges Mal fotografiert worden zu sein, womit es dann auch keine Andenken mehr gab. Deshalb hat man beim Tod eines Kindes – damals war die Kindersterblichkeit deutlich höher als heute – Geld zusammengekratzt, um sich auf den letzten Drücker noch ein Andenken zu machen und wenigstens ein Foto zu haben.

Kann man googeln, ich habe beispielsweise diese und diese gefunden. Ein Mann soll auf dem Foto mit seinen Kumpels bereits 2 Jahre tot gewesen sein.

Kurioser Nebeneffekt: Es gibt Fotos, auf denen die Lebenden unscharf und die Toten scharf sind. Lange Belichtungszeiten, und die Lebenden bewegen sich halt noch etwas.

Fand man damals wohl normal, vermutlich auch, weil die Leute damals deutlich häufiger und näher mit Toten konfrontiert wurden als wir heute in unserer Entsorgungsgesellschaft.

War mir bisher nicht bekannt.

(Kennt Ihr den Film „Immer Ärger mit Bernie”?)